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Autonomie während der Pandemie

Julian Nida-Rümelin und Nathalie Weidenfeld argumentieren in ihrem Buch für mehr persönliche Freiheit.

Sich inmitten der Pandemie für Lockerungen auszusprechen, birgt das Risiko, als Corona-Skeptiker diffamiert zu werden. Dieses Risiko einzugehen, dazu noch mit einem philosophischen Buch über – eben – die Realität des Risikos, verdient Anerkennung.

Julian Nida-Rümelin, seines Zeichens ehemaliger Staatsminister für Kultur, emeritierter Professor für Philosophie und politische Theorie und gegenwärtig stellvertretender Vorsitzender des Ethikrats, ist bestens mit Risikoeinschätzungen vertraut, sowohl aus akademischer als auch praktischer Sicht. Um den fachlich fundierten Vorstoß verständlicher zu machen, steuert Nathalie Weidenfeld, Autorin, Kulturwissenschaftlerin und Nida-Rümelins Ehepartnerin, zu jedem Kapitel Beispiele aus Kunst und Kultur bei. So wird etwa der Abschnitt »Konformität in Krisenzeiten« mit einem Auszug aus dem Film »Die Welle« eingeleitet, in dem ein Lehrer eine faschistoide Bewegung in seiner Klasse entstehen lässt. Damit will das Autorenteam das Buch einer breiten Öffentlichkeit schmackhaft machen und so einen Beitrag zur Debatte um die politischen Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie leisten.

Autonomie ist wichtiger als Risikovermeidung

Wie im Untertitel beschrieben, geht es in dem Bestseller um den vernünftigen Umgang mit Gefahren. Zu Beginn widmen sich die Autoren deswegen der rationalen Bewertung von Risiken. Dazu beschreiben sie auch einige psychologische Fallstricke der Gefahrenbewertung. So finden, um nur ein Beispiel zu nennen, neu auftretende Bedrohungen weit mehr Beachtung als vertraute. Nida-Rümelin nennt das das »Paradoxon der Neuartigkeit«.

Die zentrale These des Buchs ist einleuchtend: Es ist wichtig, große Risiken zu vermeiden. Das kann allerdings nur dann gerechtfertigt werden, wenn dabei die Autonomie der anderen gewahrt wird. So wäre es zum Beispiel wünschenswert, wenn weniger Menschen rauchen würden. Ein generelles Rauchverbot bedeutete aber einen Einschnitt in die persönliche Freiheit und wäre deswegen moralisch nicht zulässig. Es ist aber möglich, das Rauchen in öffentlichen Räumen zu verbieten, weil dabei die Gesundheit anderer gegen deren Willen gefährdet und somit ihre Autonomie verletzt wird. Nur in Ausnahmefällen darf Risikovermeidung unsere Freiheitsrechte beschneiden, zum Beispiel wenn eine tödliche Virus-Pandemie mit einem gesellschaftsübergreifenden Lockdown bekämpft wird.

Die Idee, die Kapitel mit bekannten Filmbeispielen einzuleiten, ist zwar gut. Die Beispiele helfen allerdings nicht immer dabei, die Argumentation zu verstehen. Es wäre hilfreicher gewesen, sie mit der eigentlichen Argumentation zu verweben. Zudem bekommt man beim Lesen an manchen Stellen den Eindruck, dass das Buch unter Zeitdruck entstanden ist. So besteht ein großer Teil des Werks aus schon veröffentlichten Interviews mit Nina-Rümelin und Zeitungsartikeln, an denen er mitgewirkt hat.

Die zweite Hälfte des Buchs widmen die Autoren der gegenwärtigen Pandemie und der Frage, was aus risikoethischer Sicht der richtige Umgang damit wäre. Sofern die vulnerablen Gruppen geschützt werden können, so das Argument, lässt sich ein Lockdown, der die gesamte Gesellschaft betrifft, nicht rechtfertigen. Schließlich lägen die »Gesundheitsrisiken von Covid-19 (…) in der jüngeren und gesunden Bevölkerung« unter denen »einer stärkeren Influenza«. Und einer Grippewelle werde auch nicht mit Autonomie­beschneidungen begegnet. Außerdem bringe der Lockdown erhebliche soziale, ökonomische, kulturelle und gesundheitliche Nebenwirkungen mit sich, die sich für den gesunden Bevölkerungsteil nicht begründen lassen, wenn vulnerable Gruppen geschützt werden können.

Das Risiko verändert sich stetig

Diese Bewertung legt ein erhebliches Manko des Werks offen: Die Arbeiten am Buch haben die Autoren Ende 2020 abgeschlossen. In einigen Teilen beziehen sie sich aber auf Fakten, die spätestens bei der Veröffentlichung der Publikation im April 2021 veraltet waren. Vor allem die Gefahr von Corona im Vergleich zur saisonalen Grippe wird in aktuellen Studien deutlich anders bewertet. Außerdem ist die im Buch getroffene Unterteilung in eine vulnerable und eine nicht vulnerable Gruppe praktisch nicht ohne Weiteres umsetzbar. Das Robert Koch-Institut zählt in Deutschland über die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung zur Risikogruppe.

Leider lenken diese Ungereimtheiten davon ab, dass die Argumentation an sich schlüssig ist: Wenn die vulnerable Gruppe geschützt werden kann, sind Freiheitsbeschränkungen für die gesamte Bevölkerung nicht vertretbar. Die Betonung liegt hier auf dem »Wenn«. Die Schwachstelle der Streitschrift besteht darin, dass sie nicht darauf eingeht, wie groß diese Risikogruppe eigentlich ist und wie sie anders geschützt werden könne. Die Realität des Risikos ist eben auch, dass sich das Risiko fortlaufend verändert. In der gegenwärtigen Corona-Pandemie sind es neue wissenschaftliche Erkenntnisse und die virale Variabilität, die uns zu einer ständigen Neubewertung der Gefahr zwingen.

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