Nützlicher Perspektivwechsel
Die Grenze zwischen Spanien und Portugal ist seit Jahrhunderten festgelegt. Doch wussten Sie, dass ihre angegebene Länge je nach Nachschlagewerk zwischen 915 und 1291 Kilometern differiert? Oder dass einige Personen den ekuadorianischen Vulkan Chimborazo – und nicht den Mount Everest – für den höchsten Gipfel der Welt halten? Solchen überraschenden Phänomenen widmet sich der junge Mathematiker Mickaël Launay auf spannende Weise in seinem neuesten Buch »Die Regenschirm-Formel«.
Einen Schirm aufspannen, um dem Regen zu entfliehen
Anders als der Titel vermuten lässt, dreht sich das Werk nicht um eine bestimmte Gleichung. Stattdessen geht es um eine gängige wissenschaftliche Methode, mit hartnäckigen Problemen umzugehen: Man schafft eine mathematische Modellwelt, die sich von der echten unterscheidet, in der sich die Aufgabe aber lösen lässt, und überträgt das Ergebnis anschließend wieder in die Realität. Launay vergleicht das damit, einen Regenschirm aufzuspannen (dieser entspricht der neuen mathematischen Welt), um von einem Ort (Frage) zu einem anderen (Antwort) zu gelangen, ohne nass zu werden.Dass sich diese Methode häufig als nützlich erweist, veranschaulicht der Autor anhand etlicher Beispiele. Jedes seiner fünf Kapitel beginnt er mit einer unerwarteten Aussage, etwa dass die Preise von Lebensmitteln in Supermärkten nicht gleich häufig auftauchen – ebenso wenig wie die Einwohnerzahlen von Städten oder die Anzahl einzelner Buchstaben in Büchern. Um das zu erklären, lässt der Autor seine Leser erkennen, dass wir Zahlen oft nicht additiv, sondern multiplikativ vergleichen. Additiv gesehen ist die Größe einer Katze mit etwa 25 Zentimeter näher an der eines Bakteriums (wenige millionstel Meter) als an der eines Labradors (zirka 60 Zentimeter). Wendet der Autor das auf die Supermarktpreise an, kommt er zu dem Schluss: »Die Zahlen der Welt sind regelmäßig verteilt, aber eben aus multiplikativer Sicht!«
Auch die beiden anfangs gestellten Fragen erörtert Launay mit Hilfe der Regenschirm-Formel. Die Länge von Küstenlinien und Grenzen bereiten vielen Personen Probleme, weil sie Fraktale darstellen, das heißt sie werden länger, je genauer man hinsieht. Die Höhe von Bergen wiederum ist schwer zu definieren, weil man dafür stets einen Bezugspunkt braucht. Wählt man den Meeresspiegel, dann ist der Mount Everest der höchste Punkt der Erde, betrachtet man allerdings den Mittelpunkt unseres Planeten als Bezugspunkt, ragt der Chimborazo am weitesten heraus.
Launay arbeitet sich in seinem Buch von einer faszinierenden Frage zur nächsten vor, bis er schließlich bei der Relativitätstheorie anlangt. Dort erklärt er, wie es Einstein mittels der Regenschirm-Formel gelang, unser Weltbild auf den Kopf zu stellen. Für Erbauung sorgen dabei nicht nur an den vielen künstlerischen Illustrationen, die das Buch schmücken, sondern auch etliche lustige Details, etwa bezüglich der Seitenzahlen im Abschnitt über Fraktale, die dort als gebrochenzahlige Dezimalzahlen erscheinen (siehe Seite 148,3).
»Die Regenschirm-Formel« richtet sich an ein breites Publikum und erfordert keinerlei mathematische oder physikalische Vorkenntnisse. Durch den unterhaltsamen und spannenden Schreibstil des Autors erscheint die Lektüre äußerst kurzweilig. Wer etwas mehr über die angesprochenen Themen erfahren möchte, findet am Ende des Buchs sowohl hilfreiche Literaturtipps als auch Formeln und ausführlichere Erklärungen.
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