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Thema verfehlt

Dieses Buch beweist: Biophilosophie zu betreiben und dabei die aktuelle Biologie zu ignorieren, ist keine gute Idee.

Die Autoren dieses Buchs wollen nicht weniger unternehmen, als eine neue Theorie des Lebens vorzuschlagen, welche die Evolution einschließt. Schon beim ersten Blick auf das Werk überrascht dessen Klappentext, ein Zitat des Mathematikers und Philosophen Alfred North Whitehead von 1929: »Eine durchgängige Evolutionsphilosophie ist unvereinbar mit Materialismus […] Evolution wird nach der materialistischen Theorie auf ein anderes Wort für die Beschreibung von Veränderungen in den äußeren Relationen zwischen Materieteilchen reduziert. Hier gibt es nichts, was der Evolution fähig wäre, weil eine Menge von äußeren Relationen so gut wie jede andere ist […]« Das Zitat zeigt ein selbst für damalige Verhältnisse erschreckendes Unverständnis evolutiver Vorgänge. Wenig aktuell präsentiert sich zudem das Literaturverzeichnis des Bands: Es listet dutzendweise (vor allem idealistische) Philosophen bis hin zu Platon und Hegel auf, neben veralteten biologischen Publikationen etwa von Ernst Haeckel (1913). Aktuelle wissenschaftliche Originalarbeiten – außer denen der Autoren selbst – sind Rarität.

Als habe es keinen Erkenntnisfortschritt gegeben

Bei der Lektüre fällt auf, dass die Autoren zahlreiche Begriffe falsch oder irreführend verwenden. Molekularbiologie ist nicht »aus einer Kombination der Mendelschen Genetik mit der Theorie Darwins […] hervorgegangen«, Biologie folgt keinem »mechanistischen Denkschema« und ist auch nicht »physikalistisch«, die aktuelle Evolutionstheorie ist nicht »neodarwinistisch«, und biologische Erklärungen sind nicht »positivistisch«. Wesen, Struktur und Logik der Naturwissenschaften werden hier auf bestürzende Weise ignoriert, so als habe es seit »L'Homme-Machine« (Julien Offray de la Mettrie, 1748) keinen Erkenntnisfortschritt gegeben.

Was hat das Buch als Alternativen zur »Standardbiologie« zu bieten? Die Autoren finden beispielsweise, dass ein physiologischer Anpassungsprozess »ausgelöst wird, wenn eine Milieuänderung die Funktionsharmonie eines Fließgleichgewichts des Stoffwechsels beeinträchtigt. Im Fließgleichgewicht wird die jeweils vorhandene Energie mit optimaler Effizienz verwertet, und die im Stoffwechsel erzeugten Strukturelemente der Zelle gewährleisten die Aufrechterhaltung der Erscheinungsform des Organismus. Eine Störung des Fließgleichgewichts verursacht daher eine Deformation der Erscheinungsform.« Falkners zufolge wäre also die Energieausbeute der natürlichen Fotosynthese von rund 20 Prozent optimal …

Die Autoren sehen den »geistigen [sic!] Aspekt des Lebendigen im Stoffwechsel«, sie sehen »Selbstgestaltungsakte« der Organismen, geleitet durch ein »Zellgedächtnis« und ein »Artgedächtnis«, sowie »intra- und interorganismische Spannungsfelder«. Die Ursache für einen biologischen Prozess kann ihrer Ansicht nach in der Zukunft liegen – so in der Steuerung der Genexpression, deren Wirkung ja erst später eintrete. Es ist – etwa am Beispiel des Lac-Operons – Abiturwissen Bio-Leistungskurs, wieso dem nicht so ist und warum hier »Standard-Kausalität« gilt.

Embryogenese beruht laut den Falkners nicht auf »Entwicklungsprogrammen« (gemeint sind wohl Gene, welche die Embryogenese steuern), sondern auf »der Beziehung zwischen Erfahrung und Selbstkonstitution in den verschiedenen Etappen der organismischen Entwicklung unter Einbeziehung der logischen Entfaltung von Funktionsharmonien«, unter anderem weil »die lineare Anordnung von Nukleotiden auf der DNS« nicht die »dreidimensionale Gestalt eines Lebewesens« hervorbringen könne. Wenn es sich tatsächlich so verhält, warum kann man dann dreidimensionale Objekte in linearen Bitabfolgen codieren?

Offenbar verstehen die Autoren »Leben« von vornherein nicht als natürliches Phänomen, das sich empirisch-wissenschaftlich untersuchen und kausalanalytisch beschreiben lässt, sondern als eigene Substanz im philosophischen Sinne. In Organismen bestehe »eine innere Beziehung« zwischen »physiologischen Teilprozessen«, die »mit biochemischen und biophysikalischen Methoden nicht erkannt werden« könne; vielmehr gebe es in der Physiologie ein »ideelles Regulativ«. Das ist Vitalismus und Esoterik reinsten Wassers.

In der biologischen Evolution, so ist dem Werk zu entnehmen, »bewerten« Organismen aktiv ihre Umgebung und verfolgen »freiwillig« und »reflektiert« eigene »Intentionen« – Klartext: Arten wollen evolvieren und planen dies gezielt. Die Evolutionstheorie, erfahren wir weiter, könne angeblich die »Höherentwicklung« der Organismen nicht erklären – nun, die Grundzüge finden sich bereits in »The Emergence of Evolutionary Novelties« (Ernst Mayr, 1959), und aktuell beforscht wird es in der evolutionären Entwicklungsbiologie: All dies findet keinerlei Erwähnung.

Dieses Buch ist wohl aus gutem Grund in einem philosophischen Verlag und nicht als Fachbuch erschienen: Es hätte das Fachlektorat nicht überstanden. Der Schaden beziehungsweise die Verwirrung, die es anrichten wird, dürfte gering bleiben. Jedoch ist zu erwarten, dass es als Zitate-Steinbruch von Esoterikern und Kreationisten ausgeschlachtet wird.

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