Mehr als ein Kuriositätenkabinett
»Wie praktisch wäre es doch«, so der Stoßseufzer zahlloser Sprachschüler, »wenn es nur eine einzige Sprache gäbe auf der Welt (und ich mich nicht mit der englischen ›continuous form‹ / dem französischen ›passé simple‹ / dem lateinischen ›ablativus absolutus‹ abplagen müsste)!« Praktisch, in der Tat. Aber eben auch eine schreckliche intellektuelle Verarmung, wie der Sprachwissenschaftler Jürgen Trabant erst vor Kurzem in seinem Buch »Sprachdämmerung« dargelegt hat. Denn jede Sprache verkörpert ihren eigenen Zugriff auf die außersprachliche Wirklichkeit, strukturiert die Wahrnehmung auf eigene Weise, erzwingt oder ermöglicht Differenzierungen, die man in anderen Sprachen wenn überhaupt nur mit großem Aufwand leisten kann. Deshalb kann jede Übersetzung immer nur eine unvollkommene Annäherung sein, ist dafür aber auch eine schöpferische Leistung. Mit jeder Sprache, die stirbt, vergeht gleichzeitig eine spezifische Art, sich mit der Welt auseinanderzusetzen.
Völlig normal und logisch?
Auch der ausgesprochen vielseitige und produktive Linguist Harald Haarmann schlägt in diese Kerbe, allerdings nicht in melancholischer Resignation wie sein Kollege. In »Die seltsamsten Sprachen der Welt« geht es Haarmann nicht so sehr um sprachphilosophische Erwägungen, sondern ganz handfest darum, dem Leser die Welt der Sprachen in ihrer bunten Pracht und üppigen Vielfalt vor Augen zu führen. Mit dem Staunen darüber, was es rund um den Globus für verblüffende Phänomene zu entdecken gibt, kommt unbemerkt auch die Erkenntnis auf, wie wenig selbstverständlich die Verhältnisse der eigenen Muttersprache sind, die man bislang für völlig normal oder gar logisch hielt.
Was aber ist unter »seltsam« zu verstehen? Laut Haarmann bieten sich zwei Lesarten an: Seltsam seien sowohl objektiv seltene Dinge als auch das, was uns subjektiv bemerkenswert, unerwartet, kurios erscheint. Der Leser erfährt von den Klicklauten der Khoisan-Sprachen im südlichen Afrika und der finnischen Vokalharmonie; vom baskischen Kasussystem und Nominalklassen im Thailändischen; von der Entstehung deutscher Schachtelsätze oder vom Jukagirischen (beheimatet in Ostsibirien), wo man nicht einfach nur konstatiert, dass der Vater einen Polarfuchs getötet hat, sondern unterschiedliche Verbformen verwendet je nachdem, ob man es selbst gesehen oder von anderen erfahren hat. Im Kapitel über »Wortschätze« liest man zudem, wie differenziert das Vokabular zur Kamelzucht in Somalia oder zum Regen auf Hawaii ist.
Großen Raum nehmen sprachliche Phänomene ein, die mit der sozialen Wirklichkeit der Sprechergemeinschaft zu tun haben: etwa Verwandtschaftsbezeichnungen oder Sondersprachen für Frauen, Höflichkeitskonventionen und sprachliche Tabus. Spätestens hier wird deutlich, dass sich die Funktionsweise einer Sprache nicht verstehen lässt, ohne sich mit ihren Sprechern und deren Lebensverhältnissen auseinanderzusetzen. Nach der Lektüre des Buchs wird man – auch wenn Haarmann selbst nichts darüber sagt – das Potenzial maschineller Übersetzungen nicht mehr so optimistisch beurteilen.
Ganz zum Schluss kommt Haarmann auf geplante Sprachen zu sprechen. Sei es, weil eine längst ausgestorbene Sprache erfolgreich wiederbelebt wurde (etwa das Hebräische) oder weil man eine neue erfand, wie Esperanto. Ein weiteres Beispiel dafür ist Klingonisch, das sich der Sprachwissenschaftler Marc Okrand unter der Maßgabe ausdachte, es solle möglichst befremdlich wirken. Das gelang ihm unter anderem durch die Voranstellung des Objekts im Satz – eine Wortfolge, die in natürlichen Sprachen extrem selten vorkommt.
Das Buch lädt zum entspannten Schmökern ein, doch es ist mehr als nur ein linguistisches Kuriositätenkabinett. Der Autor hofft, es möge »dazu anregen, das Seltsame in seinem Eigenwert und als Bereicherung zu verstehen«. Wer so Spannendes zu berichten hat und das in erfreulich unprätentiöser Sprache tut, wird das Ziel mit Sicherheit erreichen. Und wenn Aristoteles Recht hat damit, das Staunen sei der Ursprung des Philosophierens, sogar noch einiges mehr.
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