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"Das wird nicht einfach wieder gut"

Harald Welzer entführt uns in eine düstere Welt: In eine Gesellschaft, die erstmals in der Geschichte ihre Freiheit eigenständig aufgibt. In der Mächtige und Gierige ganz ungeniert preisgeben, wie sie sich die Welt untertan machen. In der sehr viele Menschen für den Reichtum sehr weniger hart kämpfen – und diesen Kampf oft mit dem Leben bezahlen. Ein beklemmendes Szenario, das laut dem Autor längst Wirklichkeit ist. "Smarte Diktatoren" in Form von Konzernchefs beherrschten uns und entwürfen eine Welt ohne Demokratie, die sich nur an den Gesetzen des Markts orientiert.

Die Digitalisierung der Arbeits- und Lebenswelt spielt dabei eine entscheidende Rolle, wie der renommierte Soziologe und Sozialpsychologe zeigt. Denn sie führt zu einem gesellschaftlichen Wandel, der die Demokratie unterhöhlt. Die digitale Revolution erreiche, was den totalitären Regimes des 20. Jahrhunderts nie gelungen sei: Eine flächendeckende Kontrolle der Gesellschaft, indem die Menschen sich über ihr Netz- und Konsumverhalten großteils selbst entblößen. Deshalb handle es sich um eine smarte Diktatur. Ein wichtiger Schritt dahin sei die Ächtung des Privaten in den "sozialen Medien", die den Autor an bewährte Stasi-Methoden der gegenseitigen Denunzierung erinnert.

Ein Paradies für Geheimdienste

Mit verschiedenen Vergleichen regt der Soziologe zum Nachdenken an, indem er etwa erklärt, dass Geheimdienste wie die NSA heutzutage kaum noch spionieren müssen. Mühsam versteckte Wanzen und Kameras sind überflüssig, wenn jegliche Kommunikation über "soziale Medien" stattfindet. Zudem erzeuge die personalisierte Informationsverteilung immer mehr Menschen, die in Filterblasen gefangen und damit unaufgeklärt sind, was die Demokratie zusätzlich untergrabe. Denn die Algorithmen "helfen" uns nicht nur bei Kaufentscheidungen, sondern filtern auch, welche Nachrichten wir zu sehen bekommen. Auf diese Weise, schreibt Welzer, werde die Meinungsbildung massenhaft manipuliert.

Nachdem der Soziologe in seinem zurückliegenden Werk "Selbst Denken" (2013) die westliche Konsumgesellschaft beschrieben und Wege heraus gezeigt hatte, legt er nun also sein Hauptaugenmerk auf die Digitalisierung und übt klassische Kapitalismuskritik. In bekannter Manier setzt er verschiedenste Sachverhalte klug zueinander in Beziehung und zeichnet ein ganzheitliches Bild. Seiner Meinung nach sind es bestimmte Persönlichkeitstypen, auf deren Rücken sich die neue Art von Diktatur besonders leicht umsetzen lässt: Menschen, die sich selbst nie genug sind und stets meinen, ihre Möglichkeiten nicht ausgeschöpft zu haben. Dank "technischer Erweiterungen" wie dem neuesten Smartphone glaubten sie, ihre Defizite kompensieren und ihr unvollkommenes Dasein verbessern zu können – eine Ansicht, die die Medien oft unterstützten.

Arabischer Herbst

Dennoch ist Welzer weit davon entfernt, alles Digitale zu verdammen. Vielmehr ordnet er es in systemische Zusammenhänge ein und macht es dadurch besser begreifbar. Beispielsweise geht er darauf ein, dass der "Arabische Frühling" teilweise durch die sozialen Medien ermöglicht wurde. Doch leider hätten diese Bewegungen in der digitalen Sphäre nicht zum Erfolg sozialer Bewegungen in der analogen Lebenswelt geführt: Der "Arabische Frühling" sei eine gescheiterte Revolution.

Der Autor umreißt die Bedingungen in der Produktion von Smartphones und anderer Elektronik – Bedingungen, die oft menschenverachtend sind, da die Geräte zum Teil aus Seltenen Erden bestehen, die sich dem Boden nur mit riesigen Mengen giftiger Chemikalien entreißen lassen, oft in krankmachender Handarbeit. Zudem entlarvt Welzer den Mythos der IT als "sauberer Technik": Ein Server eines großen Unternehmens wie Microsoft verbrauche so viel Strom wie eine mittelgroße Stadt.

Gleichzeitig jedoch biete das Digitale hervorragende Möglichkeiten für den Widerstand, so der Soziologe. Jede(r) könne sich wehren, indem er den Datensammlern etwa Computerprogramme wie "TrackmeNot" entgegen halte, die die Suchhistorie verändern. So werde es stark erschwert, ein Persönlichkeitsprofil zu erstellen und dieses mit passgenauer Werbung zu koppeln. Ein lesenswertes Buch, das mit schlüssiger und eingängiger Argumentation besticht und aufklärt, ohne dabei zu belehren.

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