Naturschutz als Medizin
Schon vor mehr als 15 Jahren spielten Wissenschaftler im Auftrag der EU-Kommission die Folgen verschiedener ökologischer und wirtschaftlicher Katastrophen durch. Was passiert, wenn der Klimawandel den Golfstrom abbrechen lässt? Was, wenn durch den ungebremsten Verbrauch fossiler Brennstoffe die Ölpreise explodieren? Und: Was wären die Folgen der weltweiten Ausbreitung einer Infektionskrankheit – einer Pandemie? Das Ergebnis des Planspiels: Klimakrise und Ölpreisschock stürzen die Welt in eine Krise. Eine Pandemie kann sie in die Katastrophe führen.
Kurze Zeitreise in das Jahr 2040
Einer der Autoren dieser weitsichtigen Untersuchung war Josef Settele. Der Ökologieprofessor am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Halle beschäftigt sich seit Langem mit den komplexen Folgen menschlicher Eingriffe in die Ökosysteme. In seinem kürzlich erschienenen Buch »Die Triple-Krise« spinnt er den Faden weiter und begibt sich auf eine Zeitreise in das Jahr 2040: Kinder kennen Obst nur noch aus dem Internet, weil es keine Insekten mehr zum Bestäuben gibt. Waldspaziergänge sind wegen der hohen Virengefahr verboten, die sich mit dem Einwandern afrikanischer Flughunde weiter verschärft hat. Spaß würde ein solcher Ausflug ohnehin nicht machen, denn einerseits haben Borkenkäfer und andere Schädlinge den Wald in ein Trümmerfeld verwandelt, andererseits sind mit den übrigen Insekten auch die Vögel verschwunden.
Dieses düstere Zukunftsszenario verlässt Settele nach wenigen Seiten wieder, seine Botschaft hat er damit deutlich gemacht: Klimawandel, Artensterben und die rasante Verbreitung gefährlicher Infektionskrankheiten hängen enger zusammen, als es für viele auf den ersten Blick scheint. Und die Effekte verschärfen sich wechselseitig. Alle drei Komponenten dieser »Triple-Krise« sind durch eine ausbeuterische Übernutzung der Ökosysteme entstanden und lassen sich entsprechend mit der gleichen Medizin heilen, lautet die Kernthese des Autors. Mehr Schutz der verbliebenen Natur und größere Anstrengungen, um die geschundenen Regenwälder, Ozeane und europäischen Blühwiesen wiederherzustellen – das rette den Planeten und die Gesundheit der Menschen. »Mein Buch soll ein Weckruf sein, die Artenvielfalt, insbesondere die der Insekten zu erhalten«, so Settele.
Außer zur Einleitung setzt der Helmholtz-Forscher nicht auf Schock-Effekte, sondern vermittelt kenntnisreich und gestützt auf zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten ein ungeschminktes Bild vom Zustand der Erde und ihrer Ökosysteme.
Insbesondere erklärt Settele Zusammenhänge, etwa den zwischen der Umweltzerstörung und der Zunahme von Viruserkrankungen. »Je mehr der Mensch in die bis dahin unberührte Natur vordringt und sie ausbeutet, desto mehr kommt er mit Viren in Kontakt, denen er zuvor nie begegnet ist. Umso näher wir an Wildtieren leben …, desto mehr Übertragungen werden wir erleben.« Diese Erkenntnis ist mittlerweile allgemein akzeptiert, was unter anderem daran liegt, dass der Autor und seine Kollegen vom Weltbiodiversitätsrat IPBES nicht müde werden, darauf hinzuweisen. Settele weiß, worüber er spricht: Als Kovorsitzender hat er den IPBES-Bericht zum globalen Zustand der Ökosysteme mitverfasst – jenen Report, der es auf Basis tausender wissenschaftlicher Quellen im Jahr 2019 geschafft hat, das drohende Aussterben von einer Million Arten in den nächsten Jahrzehnten zum gesellschaftlichen Thema zu machen.
Wie lassen sich aber hochkomplexe ökologische Fragen für Laien anschaulich erklären? Wie die schlechten Nachrichten zum globalen Artensterben vermitteln, ohne die Leser gleich zu entmutigen? Für Settele ist das »ein klarer Fall für Schmetterlinge«. Und so flattert und krabbelt es durch das Buch, was das Zeug hält. Zwar beschreibt der Autor die dreifache Öko-Krise auch anhand von Klimadaten und der Lage anderer Tier- und Pflanzengruppen. Vor allem aber nutzt er die Erkenntnisse wissenschaftlicher Forschung zu Insekten, »dem Dreh- und Angelpunkt im Ökosystem«, um die komplexen Auswirkungen menschlich verursachter Veränderungen auf die Natur zu illustrieren. Insekten sind für Settele »das Fieberthermometer des Planeten«.
Das Buch hat allerdings auch Schwächen. So vermischt es wissenschaftlich abgesicherte Erhebungen zur Vogelwelt vom Dachverband Deutscher Avifaunisten mit anekdotisch gewonnenen Daten aus Aufrufen zum Vogelzählen für jedermann und ruft mit Haussperling und Amsel nicht eben die überzeugendsten gefiederten Kronzeugen für das Insektensterben auf. Auch könnte man sich eine ausführliche Bibliografie der Quellen zum weiteren Nachlesen wünschen. Doch diese Mängel sind verzeihbar, denn bei »Die Triple-Krise« handelt es sich nicht um ein Fachbuch, sondern den gelungenen Versuch eines Fachmanns, wissenschaftliche Erkenntnisse zu einem überlebenswichtigen Thema allgemein verständlich aufzubereiten und für eine lange überfällige Wende in der Umweltpolitik zu werben.
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