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»Die unglaubliche Welt genialer Menschen mit Autismus«: Autismus: Superkraft oder Handikap?

Wann ist die Funktionsweise eines Gehirns als akzeptable Variante, wann als Symptom einer Krankheit einzustufen? Diese Frage schwingt mit bei den Geschichten in diesem Buch. Man lernt bei der Lektüre einiges über Autismus. Eine überzeugende Antwort auf besagte Frage liefert der Autor allerdings nicht.
Asiatisches Kin vor diffusem grauem Hintergrund mit geschlossenen Augen, sein Gehirn ist von außen in leuchtenden Strukturen dagestellt.

Erinnern Sie sich noch an den Film »Rain Man« aus dem Jahre 1988? Darin spielt Tom Cruise den egozentrischen Autohändler Charlie, der nach dem Tod seines Vaters erfährt, dass sein Bruder Raymond – gespielt von Dustin Hoffman – das Vermögen der Familie erbt. Raymond lebt in einem Heim, ist Autist und kann sein Leben nicht allein bestreiten. Charlie fährt mit seinem Bruder anschließend quer durch die USA, die Brüder kommen sich näher, und Charlie versteht den ihm zunächst merkwürdig erscheinenden Raymond immer besser.

Diese und ähnliche Darstellungen prägen das öffentliche Bild von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen bis heute. Die wenigsten wissen, dass der Begriff »Autismus« ein sehr breites Spektrum abdeckt, das von Menschen wie Raymond bis hin zu sehr milden Formen reicht, bei denen man den Betroffenen ihren Autismus kaum anmerkt. Nur etwa ein Drittel aller Autisten sind von der Form betroffen, die als schwere geistige Behinderung gilt und lebenslange Pflege nötig macht. Unter denjenigen, die als hochfunktionale Autisten gelten und durchaus ein normales Leben führen, gibt es im Vergleich zur restlichen Bevölkerung sehr viele hochintelligente und/oder kreative Menschen, die man mit einigem Recht als »Genies« bezeichnen könnte.

In seinem Buch berichtet Ulrich Merkl von genau solchen Menschen und ihrem Leben. Der Autor ist Historiker, bei ihm selbst wurde 2017 das Asperger-Syndrom diagnostiziert, eine milde Form des Autismus. Menschen mit diesem Syndrom werden auf Grund ihrer stark ausgeprägten Spezialinteressen und wegen sozialer Defizite oft als wunderlich wahrgenommen. Seit 2022 wird das Asperger-Syndrom im ICD-11 allerdings nicht mehr als eigene Diagnose geführt, sondern mit unter die Autismus-Spektrum-Störungen subsumiert. Die Menschen, die im Buch vorgestellt werden, sind teils historische, teils gegenwärtige Persönlichkeiten. Bei einigen wurde Autismus diagnostiziert (Elon Musk oder Julian Assange), andere sind eher Verdachtsfälle (Jean-Jacques Rousseau oder Charles Darwin). Der Frage, ob eine solche Ferndiagnose quer durch die Zeit problematisch sein könnte, geht der Autor im Anhang in einem eigenen Kapitel nach. Dort beruft er sich dann allerdings vor allem auf die These, dass es für Autisten klar sei, wer ein Autist sei, und nicht auf wissenschaftlich verifizierte diagnostische Instrumente. So verwundert denn auch die Aussage des Autors nicht, dass beim Blick auf die Biografien einiger berühmter Persönlichkeiten »überhaupt kein Zweifel« daran bestehen könne, dass es sich bei ihnen um Autisten handle. Eine solche Aussage in Bezug auf historische Persönlichkeiten zu treffen, die mitunter vor 300 Jahren lebten, ist höchst problematisch. Dies vermittelt den Eindruck, dass der Autor, überspitzt formuliert, überall Autisten sieht. So sind für ihn auch die Mitglieder der berühmten Addams Family »lupenreine Autisten«. Das verwundert, denn besonders das Elternpaar dieser Familie ist berühmt für seine Liebe zueinander und für die zu seinen Kindern – was an anderer Stelle im Buch als etwas beschrieben wird, was für Autisten unmöglich ist.

Abweichung von der Norm oder Krankheit?

Somit tritt auch in diesem Buch ein Problem zu Tage, das eng mit dem Konzept der Neurodivergenz verbunden ist. Das versucht, das Spannungsfeld zwischen Vielfalt – leichter Autismus als Variante menschlichen Charakters – und Krankheit – auch leichter Autismus ist bereits eine gesundheitliche Störung – neu auszuloten. Seine Anwendung schwankt zwischen bloßem Trendbegriff und ernst zu nehmendem Reformansatz innerhalb der Psychologie. Der Autor vertritt ganz klar die These, dass es sich bei leichtem Autismus – vor allem in der Variante, die früher »Asperger« genannt wurde – nicht um eine Krankheit oder Störung, sondern um eine alternative Funktionsweise des menschlichen Gehirns handelt.

Das Werk setzt sich in seinen 55 Kapiteln also indirekt in erster Linie mit der Frage nach der Definition von Krankheit auseinander – was mit Blick auf die gut nacherzählten, interessanten Anekdoten über berühmte (vermeintliche) Autisten durchaus plausibel ist. Wer über die hin und wieder auftretenden Bestätigungsverzerrungen des Autors hinwegsehen kann, lernt darüber hinaus viel über das Leben und Denken von Autisten. Nach der Lektüre werden die meisten überzeugt sein, dass Autisten nicht einfach als merkwürdige Sonderlinge in die Geschichte eingehen sollten, sondern oft als Persönlichkeiten zu würdigen sind, denen die Menschheit viel zu verdanken hat. Bis heute.

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