»Die vulnerable Gesellschaft«: Wenn Empfindsamkeit die Freiheit aller begrenzt
Unsere Gesellschaft ist in den letzten etwa 20 Jahren empfindsamer geworden, so der Befund von Frauke Rostalski. Als Beleg dafür müsse man noch nicht einmal die sogenannten Snowflakes anführen, wie sehr empfindliche junge Menschen oft polemisch genannt werden. Allein die vielen neuen Gesetze und Einschränkungen der grundgesetzlich geschützten Freiheit während der Pandemie offenbare, zu welchen Spannungen diese Entwicklung führe. War »Vulnerabilität« früher ein Fachbegriff für Experten, so sei das Wort inzwischen in das tägliche Vokabular eingegangen. Seminare an Unis untersuchen das Phänomen, populäre Bücher und andere Medien greifen das Thema auf.
Dem liberalen Staat ist ein grundsätzliches Dilemma eingeschrieben: Er ist nach dem Grundgesetz verpflichtet, die Freiheit zu garantieren; zugleich ist es seine Aufgabe, die Bürger vor Gefahren zu schützen. Für die Strafrechtlerin und Rechtsphilosophin Frauke Rostalski steht fest, dass sich die Gesellschaft seit einiger Zeit als immer vulnerabler versteht und die Waage der Justitia zunehmend in Richtung des staatlichen Schutzauftrags kippt. In dem Maße, in dem der Staat seine Schutzbefugnisse auf Vulnerable ausweite, verringere er die Eigenverantwortung der Bürger und damit auch ihre Freiheit – und zwar die aller Menschen, also auch der Vulnerablen. Das ist die zentrale These dieses Buchs, eines »Plädoyers für einen unverstellten Diskurs«.
Der Autorin, Mitglied des Deutschen Ethikrats, gelingt eine überaus sachliche Darstellung der Entwicklung und ihrer Konsequenzen. Ihr geht es weniger darum, bestimmte Entwicklungen zu bewerten. Sie will vielmehr das Gespür dafür stärken, was es bedeutet, wenn der Staat auf die zunehmende Empfindlichkeit der Bürger mit immer neuen Schutzmechanismen reagiert, also neue Gesetze oder Erlasse beschließt. Die Einschränkung der Freiheit aller bedinge einen Verlust an Verantwortung, eine Einschränkung von Handlungsmöglichkeiten und Eigeninitiative – nach dem Motto: Der Staat wird es schon richten.
Freiheit oder Sicherheit?
Zwei Typen von Risiken benennt Rostalski. Einerseits entstehen neue Gefährdungen durch wissenschaftliche Fortschritte und technische Innovationen, auf die Gesellschaften stärker vorsorglich reagieren. Als Beispiele hierfür nennt sie die Keimbahntherapie und reproduktives Klonen in der Biomedizin oder Digitalisierung und KI. Andererseits gibt es Risiken, die schon länger bekannt sind und an denen sich besonders gut zeigen lasse, wie vulnerable Gesellschaften »durch Risikomanagement eine freiheitliche Selbstlimitierung vollziehen«, bei der die »staatliche Risikovorsorge« sich auf Gefährdungen richte, »die bis dahin als ›allgemeines Lebensrisiko‹ akzeptiert wurden«. Wo mit neuen Rechtsnormen das Private zum Gegenstand öffentlicher Vorsorge werde, geschehe das um den Preis des »Verlustes individueller Selbstverantwortung, privater Konfliktlösungen und nicht zuletzt von Handlungsfreiheit«.
Rostalski verweist auf neue Gesetze der jüngsten Zeit sowie auf die Verschärfung bestehender Regelungen. So habe der Gesetzgeber den Schutz der Ehre gegen »verhetzende Beleidigung« so ausgeweitet, dass sie auch Merkmale von Opfern wie Religion oder ethnische Zugehörigkeit umfasst. Außerdem werde Politikern ein besonderer Schutz zugesprochen. Was noch Anfang der 2000er Jahre allenfalls ein möglicher Anlass für eine Zivilklage war, ist nun Teil des Strafrechts. Im Sexualstrafrecht sei mit der Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe der Schutz der Selbstbestimmung für Frauen verbessert worden; auch neue Sexualdelikte wie die Belästigung sind in der »Nein heißt Nein«-Reform kodifiziert – gleichzeitig sei damit aber auch die Selbstbehauptung von Frauen geschwächt worden. Die neue »Suizidassistenz« regelt etwas, das 140 Jahre lang nicht als Straftat gegolten hat; sie greift nun in den freien Willen des Sterbewilligen ein. In den Normen zur geschlechtergerechten Sprache der »Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien« und den deutschen Hochschulen erkennt Rostalski die Gefahr eines »Konformitätsdrucks«. Viele dieser neuen Normen verletzten das juristische »Verhältnismäßigkeitsprinzip« und könnten einer ins Unendliche fortsetzbaren »Steigerungslogik« folgen. So wurde während der Pandemie de facto ein ganzes Volk zu »Vulnerablen« erklärt und in seiner Freiheit eingeschränkt.
Schließlich befasst sich Rostalski mit der »Diskursvulnerabilität«; das sind Verletzlichkeiten, die »Menschen im Gespräch mit anderen aufgrund des Gesprächs selbst aufweisen«. So fühlten sich manche schon verletzt, weil jemand Argumente gebraucht, die als verletzend empfunden werden, selbst wenn es Sachargumente sind, beispielsweise die Aussage, dass es nur zwei Geschlechter gebe. Diese Diskursvulnerabilität begründe eine »affektive Polarisierung« der Gesellschaft, die Debatten verhindern könne. Wichtig sei es, bei der Konzeption von Maßnahmen auf Verhältnismäßigkeit zu achten, was nicht durchweg passiert sei, so die Autorin. Gesellschaftliche Debatten dürften wehtun, ja müssten dies sogar: »Der demokratische Diskurs ist keine Wohlfühlzone«.
Das Buch ist klar und verständlich verfasst. Es ist ein absolut notwendiger Beitrag angesichts der gefährdeten Demokratie – ein starkes Plädoyer für den Erhalt von Eigenverantwortlichkeit und Freiheit.
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