Prähistorische Globalisierung
Die Himmelsscheibe von Nebra, um 1800 v. Chr. in Mitteldeutschland geschmiedet, gehört seit ihrem Auffinden im Jahr 1999 zu den wohl bekanntesten archäologischen Zeugnissen überhaupt. Weniger bekannt ist hingegen der kulturelle Kontext, in dem das frühbronzezeitliche Stück entstand.
Reich bebildertes Sammelwerk
Diesen näher zu beleuchten, haben sich namhafte Gelehrte aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen in einem reich bebilderten Sammelwerk zum Ziel gesetzt, das nun als Begleitband zur Sonderausstellung »Die Welt der Himmelsscheibe von Nebra – Neue Horizonte« erschienen ist. Anschaulich wird darin das kulturhistorische Umfeld beschrieben, das die Himmelsscheibe hervorbrachte, und aufgezeigt, worauf unser Wissen basiert.
Vor rund 4200 Jahren, am Ende des Neolithikums, entstanden in Mitteleuropa komplexe sesshafte Gesellschaften, die den Beginn einer frühen staatlichen Organisation markierten und erst durch neuere archäologische und naturwissenschaftliche Forschungen aus ihrem Schattendasein heraustraten. Eine entscheidende Rolle spielte dabei die Archäogenetik, jene Forschungsdisziplin, die mittels DNA-Analyse genomweite Daten zu prähistorischen Individuen, deren Verwandtschaftsbeziehungen und Bewegungsprofilen liefert.
Auf diese Weise erbrachten Wissenschaftler den Nachweis, dass im 3. Jahrtausend v. Chr. im Mittelelbe-Saale-Gebiet zwei genetisch verschiedene und wohl auch unterschiedliche Sprachen sprechende Bevölkerungsgruppen (Angehörige der so genannten Schnurkeramik- und der Glockenbecherkultur) rund 300 Jahre lang nebeneinander lebten. Die zwei aus dem Osten eingewanderten ethnischen Gruppen schlugen sich nicht gegenseitig die Köpfe ein, sondern verschmolzen im Lauf der Zeit zusammen mit lokalen bäuerlichen Gruppen in der Aunjetitzer Kultur (benannt nach dem Fundort Únětice/Aunjetitz, nördlich von Prag). Auf diese frühbronzezeitliche Hochkultur, die zwischen 2200 und 1550 v. Chr. im heutigen Sachsen-Anhalt existierte, gehen zahlreiche Siedlungen, Grab- und Hortfunde zurück – unter anderem die Himmelsscheibe von Nebra.
Dieses erste »Reich« in Mitteleuropa brachte eine stark hierarchisch gegliederte Gesellschaft hervor, mit Fürsten an der Spitze, deren hervorgehobener sozialer Rang sich in monumentalen Grabstätten (Fürstengräber von Bornhöck, Helmsdorf und Leubingen) und kostbaren Grabbeigaben äußerte. Die »absolut wirkende Macht Einzelner« etablierte ein staatsartiges Gebilde mit dauerhafter Herrschaft und festgelegtem Territorium, das mit anderen europäischen Kulturen interagierte, wie die Beiträge im Buch anschaulich darlegen.
Parallelen im kultischen Verhalten und in der Sachkultur geben Aufschluss darüber, dass die Aunjetitzer Kultur in ein komplexes Netzwerk regionaler und überregionaler Siedlungskulturen eingebunden war, das von Skandinavien über Westeuropa bis in den Mittelmeerraum reichte und in dem ein reger Austausch von Rohstoffen, Waren und Ideen stattfand.
Diese Verflechtung zeigt sich zum einen im Aufbau nahezu identischer Architekturen, etwa den Ringheiligtümern von Stonehenge (Wessex-Kultur) und Pömmelte (Aunjetitzer-Kultur), zum anderen in den kostbaren Opfer- und Grabbeigaben (Bernstein, Glasperlen, Waffen), die von weit verzweigten Handelsbeziehungen zeugen.
Prominentestes Beispiel für die frühe Globalisierung ist die Himmelsscheibe von Nebra – sowohl materiell als auch ideell: Ihr Kupfererz stammt aus Österreich, das Gold aus Cornwall. Auch das Bildmotiv des »geschmiedeten Himmels« ist internationalen Ursprungs: Das Wissen um die Plejaden kommt aus dem Orient, das Motiv des Sonnenschiffs aus dem alten Ägypten.
Der vorliegende Band nimmt den Leser mit auf eine spannende Zeitreise in die Welt der Himmelsscheibe von Nebra und lenkt den Blick auf eine prägende Phase in der Entwicklung europäischer Gesellschaften, die schon vor mehr als 4000 Jahren erstaunlich gut vernetzt waren. Er macht Appetit auf die im Juni 2021 in Halle beginnende Sonderausstellung!
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