Vorstoß ins Unsichtbare
Ins Jahr 2020 fallen gleich zwei Jubiläen in Sachen Röntgentechnik: Zum 175. Mal jährt sich der Geburtstag Wilhelm Conrad Röntgens und zum 125. Mal seine Entdeckung der so genannten X-Strahlen. Anlässlich dessen haben die Museumsdirektoren Uwe Busch und Wilfried Rosendahl den bebilderten Band »Die Welt im Durchblick« herausgegeben. Er behandelt die aktuellen Anwendungsgebiete der Röntgentechnik und anderer bildgebender Verfahren. In 18 Beiträgen zeigen Fachautor(inn)en, welche Bedeutung diese Methoden in der Medizin, Kunstgeschichte und Kunst, Industrie und Technik, Archäologie, Paläontologie und Geologie, Physik, Chemie und Biologie haben.
Der Größenunterschied der Objekte, die mit Röntgenlicht untersucht werden, ist enorm. Durch die Beugung und Absorption der Strahlen lassen sich sowohl Moleküle sichtbar machen als auch mehrere Tonnen schwere Industrieprodukte auf Materialfehler untersuchen. Die Herausforderung in vielen Anwendungsbereichen besteht aktuell darin, die große Menge an 2-D-Rohdaten zu einem 3-D-Bild zu verrechnen. Hierfür ist neben modernen Computertomografie(CT)-Aufnahmegeräten eine hochkomplexe Software notwendig – oder auch eine KI, die selbst lernen soll und schon bei der Aufnahme nur die relevanten Daten selektiert.
Von Röntgenkunst bis Rekonstruktion
Die Abbildungen in dem Buch sind beeindruckend. Zwischen der unscharfen Röntgenaufnahme der Hand von Anna Bertha Röntgen, angefertigt im Jahr 1895, und dem Röntgen-Kunstwerk »Femme fatale« von Hugh Turvey liegen 103 Jahre. Max Liebermanns Gemälde »Die Rasenbleiche« besteht aus mehreren übereinandergemalten Entwürfen, die sich mittels Röntgenanalyse sichtbar machen lassen. Ein weiterer Buchbeitrag befasst sich mit der schrittweisen Restaurierung der Löwenmensch-Skulptur aus der Eiszeit vor etwa 35 000 Jahren, die in mehrere hundert Stücke zerbrochen war. Die Rekonstruktion gelang maßgeblich dank dreidimensionaler CT-Analyse eines ersten Restaurierungsentwurfs und Materialanalyse der nicht zuzuordnenden Bruchstücke.
Bei den Autoren handelt es sich um Mediziner, Künstler, Forscher oder auch Museumleiter, die mit den bildgebenden Verfahren arbeiten. Das verleiht dem Buch ein hohes Maß an Aktualität und Authentizität. Zwei Beispiele: Die Entdeckung der Schriften des Archimedes von Syrakus, die im Mittelalter mit biblischen Texten und Zeichnungen übermalt wurden, liest sich wie ein Krimi. Auch die autobiografische Schilderung des Künstlers Hugh Turvey, wie er die Röntgenkunst kennen und lieben lernte, zieht in den Bann.
Leider fehlt es dem Buch in anderen Kapiteln jedoch an Verständlichkeit. Fachbegriffe werden hier ohne Erläuterung verwendet und erschweren so das Durchdringen der Themen. An wen richtet sich das Werk – an interessierte Laien oder an Experten? Das scheinen die Herausgeber mit ihren Autoren nicht recht geklärt zu haben. Für einen Jubiläumsband, der einen Bogen über das Thema spannen soll, wäre das aber nötig gewesen. Auch nehmen die Artikel fast nie Bezug aufeinander, weshalb fachliche oder historische Zusammenhänge teils mehrfach erläutert werden. Ein intensiveres Lektorat, um stärker zu vereinheitlichen und auf Eingängigkeit hinzuarbeiten, hätte dem Werk gutgetan.
Zwecks besserer Verständlichkeit wäre auch ein einleitendes Kapitel über die bildgebenden Verfahren sinnvoll gewesen. Was verbindet Röntgenuntersuchung, CT, MRT und die unterschiedlichen Derivate der Methoden? Und worin unterscheiden sie sich?
Viele Abbildungen im Buch führen die Leser(innen) in eine für das menschliche Auge nicht sichtbare, faszinierende Welt ein. Die Texte aber lassen einen manchmal leider etwas rätselnd zurück.
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