»Die Wissenschaft von Game of Thrones«: Die Fantasywelt Westeros wissenschaftlich betrachtet
Der französische Paläontologe Jean-Sebastien Steyer scheint ein großer Fan von Fantasygeschichten zu sein. Zumindest hat er nach einem Werk über die Wissenschaft von Tolkiens Mittelerde nur ein Jahr später ein ebenso gewichtiges Werk über die Wissenschaft von Westeros aus der Fernsehserie »Game of Thrones« vorgelegt. Und erneut stand ihm dabei eine Gruppe von überwiegend französischen Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Fachdisziplinen zur Seite. Die Fantasyserie mit bislang acht erschienenen Staffeln ist ein Phänomen: In 86 Ländern ausgestrahlt, hat sie Zuschauer im zweistelligen Millionenbereich erreicht und gilt als die erfolgreichste Fernsehserie im Genre der heroischen Fantasy überhaupt. Nicht umsonst wurde sie seit 2015 bereits viermal mit dem Primetime Emmy Award als herausragende Dramaserie ausgezeichnet.
Die Serie basiert auf dem Fortsetzungsroman »Ein Lied von Eis und Feuer« des amerikanischen Autors George R. R. Martin, von dem 85 Millionen Exemplare verkauft wurden. Mit diesem Superlativ, aber vor allem auch in Hinblick auf Thematik und Konzeption wandelt Martin auf den Spuren des britischen Fantasyautors J. R. R. Tolkien. Tatsächlich ist der Schöpfer der »Herr der Ringe«-Trilogie ein wichtiges Vorbild des rund 50 Jahre später geborenen Amerikaners, der deshalb auch als amerikanischer Tolkien gefeiert wird. Es gibt aber auch deutliche Unterschiede zwischen beiden Sagas: So findet sich der für »Herr der Ringe« typische Kampf »Gut gegen Böse« bei Martin nicht. Bezeichnend für seine Geschichte ist dagegen, dass sich alle Charaktere in einem immerwährenden Konkurrenzkampf befinden, der mit extremer Gewalt ausgetragen wird.
Eine Hauptinspirationsquelle für Martin war nach eigener Aussage die Zeit der englischen Rosenkriege im 15. Jahrhundert. So ist das Mittelalter wichtigster kultureller Bezugspunkt mit Rittern, Festungen, Schwertkämpfen, Drachen und Hexerei. Die Gewalt spiegelt sich auch in Zahlen wider: Nicht mal 13 Prozent der Charaktere in der Fernsehserie sterben eines natürlichen Todes, die durchschnittliche Lebensdauer liegt bei unter 29 Stunden auf dem Bildschirm, und am Ende der 7. Staffel sind über die Hälfte aller Charaktere tot. Neben dieser düsteren mittelalterlichen Welt, die sich auf dem Kontinent Westeros beschränkt, existieren zwei weitere Kontinente, die einem farbenfrohen Asien und einem mysteriösen Afrika entsprechen. Somit bleibt diese Welt trotz des Ideenreichtums ihres Schöpfers letztlich ein Spiegelbild unserer Welt.
Und darin liegt laut Steyer und Kollegen der Reiz des Werkes. Jeder kann sich darin wiederfinden – mit dem eigenen Streben nach Macht, dem Wunsch nach Sicherheit, aber auch der Angst vor einer unbekannten Zukunft. Nicht zufällig steht ein bevorstehender Klimawandel im Zentrum der Geschichte: »Der Winter kommt« wird für die Westeros-Bewohner beängstigende Realität. Zwei Kapitel des Buches zur Wissenschaft von Westeros beschäftigen sich deshalb mit Geologie und Klima, beides auch mit dem Anspruch, Erkenntnisse für unsere Welt ableiten zu können. Ausführlich analysiert werden ebenfalls die Kreaturen der Sage sowie die künstlichen Sprachen, die für die Fernsehserie mit Hilfe des eigens dafür engagierten Sprachwissenschaftlers David J. Peterson weiterentwickelt wurden.
Martin selbst hat im Zuge des Vietnamkriegs den Kriegsdienst verweigert. In seiner Geschichte seziert er die menschliche Natur und eine Gesellschaft, in der jeder gegen jeden kämpft. Dies ist Gegenstand des letzten Buchkapitels, das aus der Feder eines Psychologen stammt. Für ihn bietet »Game of Thrones« Beispiele für Impulskontrollstörung, antisoziale Persönlichkeitsstörung und pathologischen Jähzorn sowie hervorragendes Unterrichtsmaterial, um den Einfluss von traumatischen Erfahrungen und Umwelteinflüssen auf die Psyche der Charaktere zu verstehen. Ob man »Game of Thrones« liebt oder wegen der Gewalttätigkeit ablehnt, bleibt eine individuelle Entscheidung. Zumindest die Fans der Serie werden auch auf das Buch von Steyer und Kollegen nicht verzichten wollen.
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