»Die Wissenschaft von Mittelerde«: Die Wissenschaft hinter »Der Herr der Ringe«
Der Zeitpunkt für die Veröffentlichung eines großformatigen Werks über John Ronald Reuel Tolkiens Fantasy-Welt Mittelerde könnte nicht besser gewählt sein: Die im Auftrag der Amazon Studios produzierte Fernsehserie »Der Herr der Ringe: Die Ringe der Macht« erzählt in der 2022 erschienenen ersten Staffel die Vorgeschichte der Erfolgsbücher »Der Herr der Ringe« und »Der Hobbit« und entfacht damit die Tolkien-Begeisterung aufs Neue. Die französischen Autoren kannten die Serie allerdings noch nicht, als sie ihre Beiträge schrieben: Die französische Originalausgabe von »Die Wissenschaft von Mittelerde« erschien schon 2019; die deutsche Übersetzung folgte im September 2022. Die von Tolkien veröffentlichten Bücher und alle bis 2019 auf diesen Werken basierende Filme sind aber in das Buch eingeflossen.
Zerstörung der Natur als Kennzeichen des Bösens
Im Vorwort bezeichnen die drei Herausgeber – ein Astrophysiker, ein Paläontologe und der stellvertretende Chefredakteur des französischen Wissenschaftsmagazins »Pour la science« – Tolkien als den Lord of Sciences. Dabei war der 1892 in Südafrika geborene und im ländlich geprägten Umland von Birmingham aufgewachsene Tolkien als Sprachwissenschaftler mit einem Faible für Mythen und Märchen nicht unbedingt technikaffin. Der aufkommenden Industrialisierung und vieler ihrer technischen Errungenschaften stand der naturverbundene Tolkien weitgehend ablehnend gegenüber – auch daran zu erkennen, dass die Zerstörung der Natur als Kennzeichen des Bösen wiederholt Eingang in sein Werk fand.
Eine Analyse von Tolkiens Werken zeigt dennoch, dass sich der Autor in vielen wissenschaftlichen Disziplinen ein profundes Wissen angeeignet hatte und dieses nutzte, um eine plausible Fantasy-Welt zu erschaffen. Wissenschaft bezieht sich dabei keinesfalls nur auf Naturwissenschaften, sondern schließt Geistes- und Sozialwissenschaften ein, darunter Tolkiens Leidenschaften, die Sprachwissenschaften und die Genealogie. Eine wichtige Rolle in »Die Wissenschaft von Mittelerde« spielen auch Geografie und Geologie, vor allem die Vulkanologie, Mineralogie und das Hüttenwesen. In einem Kapitel wird sogar das Klima von Mittelerde modelliert.
Ein großer Teil des Buchs widmet sich biologischen Fragestellungen, vor allem den Eigenschaften von Tolkiens Fabelwesen. Wie müssten die Augen von Elben beschaffen sein, um die Leistung zu erbringen, die ihnen in den Büchern zugeschrieben wird? Warum haben die Hobbits große, behaarte Füße? Gehören die von Saruman aus Orks gezüchteten Uruk-hais zu den gentechnisch veränderten Organismen, und sind Ents Pflanzen, die sich wie Tiere benehmen, oder Tiere, die wie Pflanzen aussehen? Wie lässt sich der Drache Smaug biologisch einordnen, und was nutzte Tolkien als Inspiration für die Warge, die Reittiere der Orks?
Natürlich ist vieles im Buch, wie die Klimamodellierung, die Kartierung der Vegetationszonen von Mittelerde oder die Rekonstruktion der Kontinentalplatten, reine Fiktion. Dennoch bleiben die Autoren und Autorinnen bei ihren Spekulationen stets auf dem Boden der Naturgesetze und gesicherter Erkenntnisse. Dabei decken sie auf, dass manches, was Tolkien beschreibt, ohne Magie nicht möglich wäre. So müssten Elben, um eine Gruppe Reiter in einer Entfernung von 30 Kilometern scharf sehen zu können, unnatürlich große Köpfe und Augen besitzen. Hobbitfüße könnten zwar durch Veränderungen der Homöobox-Gene entstehen, doch müssten sich die Veränderungen auch in den Händen ausprägen, weil diese der Kontrolle der gleichen Gene unterliegen.
»Die Wissenschaft von Mittelerde« ist kein Buch, das man nebenbei liest. Eine gewisse Kenntnis der Figuren und Geschichten von Tolkien ist sicher eine Voraussetzung, um Spaß an der Lektüre zu haben. Man sollte sich auch Zeit nehmen, um sich auf die zum Teil tief gehenden Betrachtungen einlassen zu können. Damit ist das hochwertig gestaltete und liebevoll illustrierte Buch jedoch genau das Richtige für alle, die sich ganz in Tolkiens Fantasy-Welt vertiefen möchten.
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