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»Die Zukunft der Wahrheit«: Über Wahrheit im ästhetischen Sinne

Regisseur Werner Herzog plädiert für ein Verständnis von Wahrheit, das sich eher an künstlerischen Kategorien denn an Fakten orientiert. Durchaus inspirierend.
Auf einer Tastatur sind zwei besonders markierte Tasten: Eine für die Wahrheit und eine für Fake News.

Als ich zum ersten Mal den Film »Fitzcarraldo« (1982) sah, verzauberte mich Regisseur Werner Herzog mit der für ihn typischen Verbindung von Bildgewalt und lakonischer Erzählweise. Bald danach sah ich den Film noch einmal, dieses Mal mit dem Kommentar des inzwischen 82-jährigen, international bekannten und gefeierten Vertreters des Autorenfilms. Zu der Idee des Protagonisten (gespielt von Klaus Kinski), ein Schiff über einen Berg ziehen zu lassen, sagte Herzog, dass er darin schon immer eine große Metapher gesehen habe – er wisse nur nicht, wofür.

Wer das hört, bekommt ein Gefühl dafür, wie wichtig Werner Herzog die nicht rationale Seite des Menschen ist. In »Die Zukunft der Wahrheit« erläutert Werner Herzog sein Verständnis des Begriffs »Wahrheit«, den die meisten von uns primär mit Fakten und Vernunft assoziieren dürften. Nicht so Herzog. Für ihn ist »Wahrheit« eine dynamische Größe, die nicht objektivierbar ist. Um dieses Verständnis zu illustrieren, erzählt er eine Fülle von Geschichten und Anekdoten aus seinem Leben als Filmschaffender, als der er immer auf der Suche nach dem war, was er »Wahrheit« nennt.

In einem Kapitel etwa berichtet er von seinem Film »Family Romance, LLC« (2019) und einer Firma, die Schauspieler für besondere außerfilmische Aufgaben vermittelt. So kann sich ein einsamer älterer Mensch beispielsweise einen Freund »mieten« oder ein Zugführer eine Art Sündenbock engagieren, der die Verantwortung für die Verspätung eines Zugs auf sich nimmt. Dabei verneigt sich der Schauspieler angesichts der Anschuldigungen des Vorgesetzten immer tiefer und übernimmt so die Rolle des reumütigen Mitarbeiters. Obschon den Beteiligten klar ist, dass es sich um eine fingierte Situation handelt, wahren sie auf diese Weise ihr Gesicht, was in der japanischen Kultur von großer Bedeutung ist. Werner Herzog erklärt, dass es sich hier zwar nicht um vollwertige menschliche Beziehungen handele, ihnen aber dennoch eine gewisse Wahrheit innewohne – da die Gefühle der Beteiligten, seien es Freundschaft oder Scham, durchaus real seien.

Wahrheit und Ekstase

Der Autor geht sogar so weit, zu postulieren, dass Wahrheit ohne Poesie, ohne eine Stilisierung oder eine fiktionale Komponente gar nicht möglich sei. Hierzu stellt er das Konzept der »ekstatischen« Wahrheit vor. Ekstase versteht Herzog im griechischen Wortsinn, also als »Aus-sich-Heraustreten«. Dieses aus dem spätmittelalterlichen Mystizismus entlehnte Konzept besagt, dass nur von dieser sozusagen außerkörperlichen, jedenfalls nicht mehr in der faktischen Welt verankerten Position aus Wahrheit entstehen könne. Dazu führt er ein weiteres Beispiel aus einem seiner Filme an: In »Flucht aus Laos« (1997) geht es um einen jungen deutschen Mann, der seine Kindheit im Deutschland der Nachkriegszeit erlebt hatte und später für die Amerikaner in den Vietnamkrieg gezogen war. Diesen Mann gab es wirklich, und Herzog verfilmte nun seine Geschichte. Bei der Suche nach originalem Filmmaterial fand ein Mitarbeiter Herzogs in einem Archiv einen Filmausschnitt von 1946, auf dem ein Metzgerladen zu sehen war, in dessen Schaufenster eine einzelne Wurst lag. Jeder Passant blieb stehen, um diese Wurst zu betrachten – wohlwissend, dass er sie nicht würde erwerben können. Diese Szene übernahm Herzog in seinen Film, auch wenn das historische Vorbild des Protagonisten einen solchen Laden nie zu Gesicht bekommen hatte. Der Autor erklärt, er könne so eine Wahrheit transportieren, die mit Fakten zwar nichts zu tun habe, sich dem Kinopublikum aber intuitiv erschließe.

Insgesamt geht es in dem mit 109 Seiten kompakten Werk vor allem um das Verhältnis von Kunst und Wahrheit und weniger um Wahrheit im landläufigen oder gar fachphilosophischen Sinne. So haben die Texte selbst auch eher künstlerischen denn argumentativen Charakter. Die elf Kapitel des Buchs lesen sich flüssig, auch wenn die assoziativen Sprünge bisweilen etwas wild anmuten. So kommt es durchaus vor, dass zwischen der Erkenntnis, dass eine gewisse Bereitschaft zum Selbstbetrug nötig sei – etwa beim Glauben an ein Leben nach dem Tod –, und Gedanken zum amerikanischen Schausport Wrestling keine halbe Seite liegt. Doch genau hierin liegt der Reiz des Werks: den Gedanken eines der wichtigsten Filmemacher der letzten Jahrzehnte zuzuhören und sich, wie bei dem irrsinnigen Plot von »Fitzcarraldo«, von Herzog verzaubern zu lassen.

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