»Diese Freiheit bedeutet mir alles«: Porträt eines freien Geistes
Als die Suchtrupps ihn 1912 erfroren in einem Zelt in der Nähe des Südpols aufstöbern, finden sie nicht nur die Tagebücher des Polarforschers Robert F. Scott. Sie entdecken auch einen Brief, den er mit seinen letzten Atemzügen an seine Frau geschrieben hat: Er beginnt mit »An meine Frau«, dann streicht er es durch und schreibt »An meine Witwe«. Scott weiß, er wird in der Eiswüste sterben.
Als Scott seine zukünftige Frau auf einer Teegesellschaft zum ersten Mal trifft, ist er sofort von dem unkonventionellen Freigeist Kathleen Bruce fasziniert. Sie wird die Liebe seines Lebens. Und Kathleen Scott wird nicht nur die stille und brave Frau an seiner Seite werden. Die Künstlerin ist freiheitsliebend, eigenwillig und widersprüchlich. Sie drängt ihren Ehemann gerade dazu, nicht an seine Familie zu denken, wenn er als Erster den Südpol erreichen will, sondern ermuntert ihn, jedes Risiko einzugehen. Sie komme auch allein mit ihrem gemeinsamen Kind zurecht. Auch diesen Brief von ihr hat Scott bei sich.
Kerstin Ehmer widmet der Frau, die ein eigenes, selbstbestimmtes Leben führt und das Streben und den Ruhm des Forschers über ein gemütliches Familienleben stellt, ein ganzes Buch. Denn Kathleen Scott ist eine Frau, die sich aus dem immer noch vorherrschenden viktorianischen Korsett der damaligen Zeit nichts macht. Sie schläft unter freiem Himmel und wird freiwillige Helferin im Mazedonienkrieg. Sie ist pathetisch, von Ruhm, Ehre und Heldentum besessen und verdient ihr eigenes Geld mit dem Anfertigen von Skulpturen. Die freiheitsliebende Künstlerin beeindruckt viele Menschen und steht in Kontakt mit bedeutenden Persönlichkeiten wie Auguste Rodin, George Bernard Shaw und Isadora Duncan, mit Schauspielern, Komponisten und Premierministern. Sie hat gerne bedeutende Männer um sich. Später, 1922, heiratet sie den Politiker Hilton Young. »Eine höchst spannende Persönlichkeit«, schreibt sie über ihn.
Eine Frau mit Widersprüchen
Meist sind es Männer, deren Anerkennung sie sucht. Denn Kathleen Scott, die ihre Freiheit über alles liebte, distanzierte sich eher von Frauen, die Ähnliches wollten, ja sie zog bei ihren Geschlechtsgenossinnen sogar deren Intelligenz und Fähigkeiten stark in Zweifel. Sprach sich gegen das Frauenwahlrecht aus. Wie dieser Widerspruch zu lösen ist, lässt Ehmer nur vermuten. Da die Autorin so viel aus dem Leben der Frau und der Gesellschaft berichtet, erlaubt sie es ihren Lesern, sich selbst ein Bild zu machen.
Ehmer schildert aber auch die Sichtweise anderer zeitgenössischer Frauen, die sich im Gegenteil offen für die Frauenrechte einsetzten. Wie die Schriftstellerin Virginia Woolf und die Choreografin und Tänzerin Isadora Duncan. Beide Kämpferinnen für ein selbstbestimmtes Leben – nicht nur für sich selbst, sondern für alle Frauen. Beide Pionierinnen für den Feminismus.
Vielleicht war es nicht für jede Frau einfach, Anerkennung in der Männerwelt zu erringen und gleichzeitig offen für Frauenrechte zu kämpfen. Noch heute ist das Wort »Emanze« meist abwertend gemeint. Am Ende des Buches schreibt Ehmer von ihrem Besuch der Bibliothek der Universität in Cambridge. Es sei schon merkwürdig, dass gerade hier das schriftliche Erbe der freiheitsliebenden Kathleen Scott lagere. Lange hatte sich die berühmte Universität dagegen gewehrt, Frauen zum Studium zuzulassen. Und als ab 1948 auch Frauen einen akademischen Abschluss machen durften, trug ein Großteil der männlichen Studenten einen Trauerflor. So stark waren die Ressentiments auch noch ein halbes Jahrhundert später.
Selbst wer sich weder für den Polarforscher noch die damalige Zeit interessiert, findet in diesem Buch eine unterhaltsame Lektüre. Ehmer gelingt es, die Leser in ihren Bann zu ziehen, sie abtauchen zu lassen in die damalige Zeit, in das Leben des Polarforschers, in das seiner Frau und in die viktorianische Gesellschaft. Nebenbei vermittelt sie einiges zur Geschichte des 19. Jahrhunderts. Das Buch ist überaus spannend, wunderbar bildhaft und authentisch geschrieben.
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