Mit Hightech zurück in die Zukunft
Ist die moderne Gesellschaft mehr als die Summe ihrer Smartphone-Nutzer? In seinem Buch »Digitale Gefolgschaft« geht Christoph Türcke, emeritierter Professor für Philosophie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, der Frage nach, ob wir uns in eine Stammesgesellschaft (zurück-)entwickeln. »Während die Bindungskräfte von Familien, Institutionen, Parteien, Verbänden und Staaten schwinden, entstehen um digitale Plattformen wimmelnde Schwärme oder Horden«, resümiert der Autor.
Die Klage ist nicht neu. Türckes weit reichende Analyse und sein unerwartetes Gegenrezept sorgen aber für ein äußerst lesenswertes und dicht argumentiertes Buch. Selbst jenseits der Digitalisierung, ihrer Entwicklung und Auswüchse spannt der Autor einen großen Bogen. Es geht einmal quer durch Geschichte, Wirtschaft und Politik bis hin zum neu erstarkenden Nationalismus. Dabei zeichnet der Autor nach, wie der Zusammenhalt sowohl im Privat- als auch im Arbeitsleben und in der Gesellschaft schon vor der Ära des Internets aufweichte.
Schule als Kompetenzbeschaffer
Türcke schöpft aus einem reichen Fundus an Material, um seine Thesen zu untermauern. Er geht unter anderem auf die Dekolonisierung ein, die neue Lernkultur, Brechts Rundfunk, die Münzprägung – sowie die Themen Öffentlichkeit und Andacht. So skizziert er das Bild eines zunehmend entkernten Staats wie auch eines Schulsystems, das nicht mehr die tiefe Durchdringung des Stoffes fördert, sondern vor allem »Kompetenz« vermitteln möchte, wenn auch in einer sehr reduzierten Bedeutung des Worts.
»Solange Kompetenz gleichbedeutend mit Sachverstand ist – sich mit etwas auskennen, Erfahrung damit haben, es geschickt ausführen und verständig darüber reden –, kann niemand etwas dagegen haben«, schreibt Türcke. In den aktuellen Bildungsplänen sei jedoch nur mehr eine Schrumpfform dessen vorgesehen. Beschleunigt, verstärkt und auf die Spitze getrieben werde all dies aber durch die Digitalisierung und ihre großen kommerziellen Akteure wie Google, Facebook und Amazon, die ihre Nutzergruppen zu Gefolgschaften machen und so eine Art Neo-Tribalismus hervorbringen.
Ohne echten Einsatz und Anteil an einer Gemeinschaft könne es aber keinen wirklichen Zusammenhalt geben, schreibt der Autor, sondern lediglich eine neue Art von Clans. Solange die derzeitigen Konditionen der Plattformen gälten, könnten ihre Nutzer nicht zu differenzierten Gemeinschaften oder Gesellschaften zusammenwachsen. Labil und unterkomplex nennt Türcke diese Arten von Gemeinschaft ohne Bestand.
Das Symbol dafür tragen viele von uns in der Hand: Das Smartphone markiere den »Indifferenzpunkt von Arbeit und Freizeit, Arbeitsraum und Wohnraum, Öffentlichkeit und Privatsphäre«, schreibt Türcke. Doch seine Analyse ist zu nuanciert, um alles zu verteufeln, was mit dem Internet zu tun hat. Als Lichtpunkt sieht er beispielsweise die Netzenzyklopädie Wikipedia, die von Heerscharen Freiwilliger ohne materiellen Gewinn bestückt werde und sich einer Kommerzialisierung entziehe. Hier soll Schwarmintelligenz im Dienst einer weitgehend objektiven Bestandsaufnahme von Fakten wirken.
Auch »Digitale Gefolgschaft« ist reich an Information, geht aber einen Schritt weiter. Das Buch ist eine sehr individuelle, von Kompetenz – im ursprünglichen Wortsinn – geprägte Analyse. Entsprechend unerwartet ist Türcks Gegenentwurf zur These des digitalen Würgegriffs. So sieht er im privaten 3-D-Druck eine mögliche Befreiung aus gesellschaftlichen Zwängen, denn dieser erlaube es Konsumenten, »Dinge des persönlichen Gebrauchs wieder so herzustellen, wie es das vorindustrielle Handwerk tat«.
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