»Dunkle Materie«: Dunkle Materie für die Westentasche
Schwarze Löcher, Dunkle Materie und Dunkle Energie – wichtige Bestandteile des Universums sind nicht direkt sichtbar. Während Schwarze Löcher nun als etabliert gelten dürfen, bleiben die Dunkle Materie und die Dunkle Energie weiterhin rätselhaft. Wir wissen einfach nicht, woraus diese Komponenten bestehen. Man ist sich aber doch ziemlich sicher, dass sie existieren.
Dunkle Materie wurde bereits in den frühen 1930er Jahren von dem holländischen Astronomen Jan Oort (1900–1992) und dem Schweizer Fritz Zwicky (1898–1974) vorgeschlagen, um die Bewegungen von Sternen und Galaxien zu erklären. Allerdings wissen wir bis heute nicht, woraus diese unsichtbare Materieform besteht. Wir können jedoch ihre Gravitationswirkung sehen und wissen, dass sie nicht elektromagnetisch wechselwirkt.
Ein Genuss wie Schweizer Schokolade
Die als Astrophysikerin ausgebildete Redakteurin der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« Sibylle Anderl widmet der Dunklen Materie ein ganz in schwarz gehaltenes Büchlein, dessen Format und Gewicht kaum größer sind als eine Tafel Schokolade. Genauso wie Schokolade kann man Anderls Buch nur wärmstens empfehlen.
Es ist in vier Kapitel gegliedert: Im ersten, das fast die Hälfte des Werks ausmacht, stellt sie die Beobachtungen vor, die uns an die Existenz der Dunklen Materie glauben lassen. An der Länge des Abschnitts sieht man schon, dass es sehr viele verschiedene Hinweise gibt: Die Rotationsgeschwindigkeiten in den Außenbezirken der Galaxien, die Bewegung der Galaxien in Galaxienhaufen, Gravitationslinsen und die Strukturbildung im Universum sind vier zentrale Argumente, warum es Dunkle Materie geben sollte.
Das zweite Kapitel widmet sich der unausweichlichen Frage: Aus was könnte die Dunkle Materie bestehen? Anderl beschreibt acht verschiedene Kandidaten – von denen bislang keiner bestätigt werden konnte, trotz groß angelegter Suchen.
Doch es gibt auch Risse im kosmologischen Standardmodell. Nicht alles passt perfekt zusammen, etwa die Zahl der Satellitengalaxien oder die sich signifikant unterscheidenden Messungen der Hubble-Konstante. Im dritten Kapitel beschreibt Anderl auch MOND, eine modifizierte newtonsche Gravitationstheorie, deren Anhänger vehement gegen die Existenz von Dunkler Materie argumentieren.
Der letzte Punkt leitet so in das sehr lesenswerte vierte Kapitel über, in dem die Autorin die philosophische Seite der geheimnisvollen Substanz diskutiert. Man könnte etwa fragen, ob Dunkle Materie eine zulässige wissenschaftliche Hypothese ist: Kann man nicht immer eine Materieverteilung finden, die jede Art von Bewegungen erklären kann? Ist die Hypothese überhaupt falsifizierbar? Ab wann wären wir bereit, Dunkle Materie als real anzusehen?
Die meisten Astronominnen und Astronomen akzeptieren Dunkle Materie als gültige, im Moment bestmögliche Arbeitshypothese. Auch wenn die Suche nach teilchenphysikalischen Kandidaten im letzten Jahrzehnt enttäuschend verlief, ist das kein Grund aufzugeben. Zu groß sind die Erfolge der Hypothese, und es gibt immer wieder neue Ideen, woraus die Materie bestehen könnte.
Jüngst wurden etwa die erstmals 1966 von Jakow Zeldovich (1914–1987) vorgeschlagenen primordialen Schwarzen Löcher wieder in Betracht gezogen, also Schwarze Löcher, die beim Urknall entstanden sind. Das wäre also eine kosmologische Lösung für ein kosmologisches Problem, und die faszinierende Idee, dass die Dunkle Materie auf einen dunklen Sektor in der Teilchenphysik hinweist, wäre schlichtweg unzutreffend.
Der einzige kritikwürdige Punkt an Anderls Buch ist die Auswahl der wenigen, schwarz-weißen Abbildungen, die nicht optimal ist. An manchen Stellen wäre der Text besser verständlich, wenn man das Diagramm sehen könnte, das die Autorin in Worten beschreibt. Aber auch so ist es eine angenehm kompakte und ausgesprochen lesenswerte Zusammenstellung eines spannenden und aktuellen Themas der modernen Astrophysik, die man zudem wirklich günstig erwerben kann – auch wenn in dem Punkt Anderls Buch die Tafel Schokolade übertrifft.
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