»Durchbruch«: Eine außergewöhnliche Forscherin
Die 1955 geborene Katalin Karikó wuchs als »Tochter des Metzgers« im kommunistischen Ungarn der Nachkriegszeit auf. Sie lebte mit ihren Eltern und ihrer älteren Schwester anfangs in einem kleinen Lehmhaus ohne fließendes Wasser. Schon als Kind liebte sie die Natur und wusste, dass sie eines Tages Wissenschaftlerin sein würde. Ihr Biologiestudium in Szeged beschreibt Karikó als herausfordernd, aber: »Wenn ich eine Superkraft habe, dann ist es die Bereitschaft, zäh und methodisch zu arbeiten und niemals aufzugeben« – was sie auch immer wieder unter Beweis stellen sollte. Für ihren Doktortitel in Biochemie forschte sie in einem Virenlabor und hatte dort erstmals die Idee, »RNA könnte als Heilmittel verwendet werden«.
Auch wenn Karikó einen Großteil des Buchs ihren Forschungen widmet, schreibt sie immer wieder über ihre Familie. So könne man nur gleichzeitig Mutter und erfolgreiche Wissenschaftlerin sein, wenn man »eine erstklassige und bezahlbare Kinderbetreuung« habe, wie es sie in Ungarn gab. 1985 wurde ihre Arbeit nicht mehr finanziell unterstützt – der erste Rückschlag in ihrem Forscherleben. Sie suchte vergeblich in Ungarn und Europa nach einer neuen Stelle, fand sie schließlich aber in Philadelphia und emigrierte mit Mann und Tochter in die USA. Ihre Zeit als »Außenseiterin« im amerikanischen Wissenschaftssystem schildert Karikó ausführlich. Als Leserin ist man immer wieder entsetzt, wie sie manchmal behandelt wurde – und erstaunt, wie die vielen Rückschläge sie dann doch eher voranbrachten als ausbremsten.
Schließlich begannen 1989 mehrere Jahrzehnte an der University of Pennsylvania, mit einer Reihe von »Rückschlägen, die jeder sah«, unterbrochen von »außergewöhnlichen Durchbrüchen, die meist so gut wie unbemerkt blieben«. Karikó arbeitete schon lange mit RNA, nun erstmals mit Boten-RNA (mRNA). Sie war überzeugt davon, dass mRNA ein »enormes therapeutisches Potenzial« aufweist. Immer wieder scheiterten ihre Projekte an der Finanzierung. Doch Karikó blieb ihrer Vision treu und forschte weiter; oft allein.
Entscheidend für Karikós Erfolg wurde die Begegnung mit Drew Weissman. Sie trafen sich 1997 zufällig an einem Kopierer in der Universitätsbibliothek. Es begann eine jahrelange, sehr erfolgreiche Zusammenarbeit. Der Arzt und Immunologe wollte neue Impfstoffe entwickeln, die Biologin und RNA-Expertin schlug ihm dafür RNA vor. Zunächst versuchten sie, einen mRNA-Impfstoff gegen HIV herzustellen. Es gab noch einige Hürden zu überwinden, um mRNA therapeutisch einzusetzen – aber 2005 hatten Karikó und Weismann es geschafft: Sie konnten mRNA im Labor herstellen und in Zellen einschleusen. Sie konnten sie davor schützen, zu schnell abgebaut zu werden und mit einem modifizierten mRNA-Baustein (Pseudouridin) sowohl eine körpereigene Abwehrreaktion verhindern als auch bewirken, dass die mRNA in sehr viele Proteine übersetzt wird. »Das war eine Entdeckung, die einem Paradigmenwechsel gleichkam«, waren sie überzeugt. Forschungsinstitute und Biotech-Unternehmen würden sich dafür interessieren – aber: Es gab kaum Reaktionen auf ihre Publikation. Noch nicht, denn 2023 war diese Veröffentlichung eine der wichtigsten, die zum Nobelpreis für die beiden Wissenschaftler führte. Doch 2013 wurde Karikó aus ihrem Labor an der Penn endgültig »entfernt«. Wieder begann ein neues Kapitel ihres Lebens.
Karikó schaute sich bei Biotech-Unternehmen um. Am meisten beeindruckte sie ein kleines Unternehmen in Mainz: BioNTech, gegründet von dem Ärzte- und Wissenschaftlerpaar Uğur Şahin und Özlem Türeci, die mRNA zur Immuntherapie von Krebs einsetzen wollten. Als Vizepräsidentin forschte Karikó mehrere Jahre dort – obwohl sie eigentlich nur ein oder zwei Jahre in Deutschland bleiben wollte. Aber dann kam der Januar 2020. Sie schildert den Beginn der Covid-19-Pandemie, die »mutige Entscheidung von Uğur und Özlem, alles auf eine Karte zu setzen« und alle Ressourcen für die Entwicklung eines mRNA-Impfstoffs zu verwenden. Ende 2020 wurde dieser Impfstoff zugelassen. Und es erschienen erste Medienberichte über Karikó und ihren Anteil an der Entwicklung von mRNA-Impfstoffen – rund vier Jahrzehnte, nachdem sie mit ihrer RNA-Forschung begonnen hatte. »Ich spürte große Demut. … Aber vor allem fühlte ich mich einfach nur geehrt, ein Teil des Ganzen zu sein.« Nun erhielt Karikó einen Preis nach dem anderen.
Diese Memoiren sind erstmals am 10. Oktober 2023 in den USA erschienen. Gut eine Woche vorher waren die Nobelpreisträger für Physiologie oder Medizin verkündet worden: Katalin Karikó und Drew Weissman wurden für ihre Entdeckungen geehrt, die entscheidend für die Entwicklung von wirksamen mRNA-Impfstoffen gegen COVID-19 waren.
Katalin Karikós Memoiren sind mehr als eine Beschreibung ihrer außergewöhnlichen Karriere in der Wissenschaft. Karikó ist eine interessante Persönlichkeit, die immer wieder emotional schreibt, das Menschliche in den Vordergrund stellt und erklärt, wie sie mit den zahlreichen Widerständen umgegangen und dabei ihrer Idee und ihren Prinzipien treu geblieben ist. Das mit einigen Fotos bebilderte Buch ist eine sehr lesenswerte und inspirierende, ja motivierende Lektüre über eine bemerkenswerte Frau. Es zeigt, wie Ideen, Wissenschaft und Beharrlichkeit die Welt zum Guten verändern können.
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