Verkaufsgespräch in Buchlänge?
Der Asperger-Autist Aaron Wahl schildert in diesem autobiografischen Buch seine ersten drei Lebensjahrzehnte. Nicht ganz chronologisch führt er seine Leser durch die großteils leider typische Geschichte eines spät diagnostizierten Autisten. Ungeschönt und oft auch drastisch formuliert erzählt er seinen Werdegang: vom früh geborenen, in der Therapiemühle gefangenen »Sorgenkind« bis zur pausenlosen Suche der Familie nach bestmöglicher Förderung, die zu Unter- und Überforderung zugleich führte. Wer sich in dem Thema auskennt, liest hier einmal mehr über unnötig negative Prognosen und gut gemeinte Schonungsversuche, die zusätzliche Barrieren aufbauten.
Wahls Berichte sind durchaus interessant und zeichnen ein unerfreuliches Bild von psychiatrischen und therapeutischen Einrichtungen, und auch andere Hilfesysteme für behinderte Menschen kommen nicht gut weg. Der Autor beschreibt eine verbreitete Oberflächlich- und Gleichgültigkeit gegenüber Betroffenen sowie eine Mentalität des Verwahrens und Abschiebens. Und zeigt damit einmal mehr, wie wichtig es wäre, Inklusion zu fördern und adäquate Möglichkeiten zu schaffen, aus der jeweiligen Situation das Beste zu machen.
Zeitsprung in die Nullerjahre
Eingestreut in die autobiografische Erzählung sind die Außenansichten von vier Personen: der Mutter, der Schwester, einer Therapeutin und einer Freundin. Teils bereichern diese Perspektivwechsel das Buch, teils aber ähneln sie den Ausführungen des Autors sehr (wie im Fall der Mutter) und wirken daher nur bedingt authentisch. Mehrere Abschnitte mit Hintergrundinformationen über Autismus lesen sich wie ein Zeitsprung in die 2000er Jahre: Es dominieren eine pathologisierende Sprache und ein veraltetes Autismus-Verständnis, das in Asperger- und frühkindlichen Autismus sowie in leicht und schwer unterteilt, statt ihn als Störungsspektrum mit sehr individuellen Ausprägungen zu begreifen.
Nicht weniger eigenwillig ist die zentrale These des Buchs, Autismus im Kern als fehlenden Zugang oder fehlendes Erleben eigener Emotionen zu definieren. Dies ist weder ein diagnostisches Kriterium noch findet man es bei der Mehrheit der Autisten vor. Im Gegenteil: Viele Betroffene beschreiben ein äußerst intensives, sie oft überforderndes Gefühlsleben. Auch wenn Autisten häufiger eine »Gefühlsblindheit« (Alexithymie) zeigen, ihre Gefühle also schlechter wahrnehmen und mitteilen können als nicht betroffene Menschen, ist sie nicht mit Autismus gleichzusetzen.
Eine Erklärung dafür, warum dieses Phänomen dennoch eine zentrale Rolle im Buch einnimmt, findet sich bereits im Klappentext: Wahls Autobiografie ähnelt einem Verkaufsgespräch in Buchlänge. Angepriesen wird die »Perdekamp Emotional Method« (PEM), ein Therapieverfahren, das dem Autor sehr geholfen hat, dessen Wirksamkeit aber wissenschaftlich nicht belegt ist. Es scheint aus psychoanalytischen Versatzstücken sowie naturreligiösen und schauspielerischen Elementen zusammengesetzt zu sein und soll Autisten mittels einer Art Schauspiel-Training einen Zugriff auf die eigenen Emotionen ermöglichen. Ein ganzes Kapitel widmet der Autor dem Thema, wie missverstanden die Methode oft werde und wie ungerechtfertigt ihre Ablehnung sei. Vertrauen schafft er damit nicht, denn er kommt jener Rhetorik nahe, mit der im Internet halbgare Interventionen bei Autismus angepriesen werden.
Dem Erfinder der PEM-Methode, Stephan Perdekamp, ist das Buch sogar gewidmet. Perdekamp scheint eine Art Blackbox zu sein. Ob seine Theatererfahrung über selbst gegründete Kleinbühnen hinausgeht, wie erfolgreich er als Theaterautor gearbeitet hat und welche psychologischen beziehungsweise therapeutischen Qualifikationen er vorweisen kann, lässt sich kaum belastbar belegen. Und über seine Methode finden sich keine unabhängigen Fachartikel. Im Vorwort ruft Tony Attwood, bekannter britischer Psychologe und Autismus-Experte, Betroffene gar dazu auf, sich zu PEM-Trainern ausbilden zu lassen. Mit den Worten des Youtubers Rezo: »Ich hätte das als Werbung kennzeichnen müssen.«
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