Eine Familie im Schatten des Stigmas
Die Erzählung beginnt mit einem mutigen Schritt. Man schreibt das Jahr 1936, und die Faschisten bedrohen den Frieden im fernen Europa. Der 16-jährige Virgil, Vater des Autors Stephen Hinshaw, ist der wahnhaften Überzeugung, mit einem symbolischen Akt die Welt vor den Nazis retten zu können. Virgil springt vom vier Meter hohen Verandadach seines Elternhauses in Kalifornien und landet für sechs Monate in einer psychiatrischen Anstalt.
1971, ein halbes Leben später, erzählt Virgil seinem Sohn Stephen von seinem Leiden. Der 18-Jährige studiert gerade in Harvard und empfindet die Offenbarung seines Vaters wie eine zweite Geburt. Immer wieder war das Familienleben durchbrochen von Phasen, in denen der Vater plötzlich ein anderer Mensch wurde und für Monate verschwand. Viel schlimmer als dessen Reizbarkeit, das Lautwerden und die wirren Reden empfand der Autor das Schweigen. Die Eltern sprachen mit ihren Kindern nicht über Vaters Krankheit; der Arzt hatte davon abgeraten.
In der Schattenwelt des Stigmas
»Wir lebten in der Schattenwelt eines Stigmas«, schreibt er. Da es sich um »eine privilegierte Familie aus dem Bildungsbürgertum« handelte, gelang es dem Vater trotz allem, ein angesehener Philosophieprofessor zu werden. Der kleine Stephen entwickelte nächtliche Ängste, die er mit Zwangsritualen in Schach zu halten suchte. Als junger Mann entwickelte er aus der familiären Erfahrung seine Lebensaufgabe: »psychische Krankheiten zu verstehen und die enorme Last der Stigmatisierung abzubauen«.
Das tut er zunächst Jahrzehnte in der klinischen Forschung und nun auch mit seiner persönlichen, sprachlich virtuosen Erzählung seiner Familiengeschichte. Dafür hat der Professor für Psychologie von der University of California in Berkeley zurecht viel Anerkennung erfahren; ein paar Schwächen hat das Buch dennoch. Unter anderem bleiben die weiblichen Rollen mit Ausnahme der Mutter blass. Dreh- und Angelpunkt ist stets der Vater, der selbst nur den Sohn ins Vertrauen zog: Seiner Tochter Sally habe der Vater nie einen Funken von Interesse entgegengebracht. Dass er sich selbst seiner Frau gegenüber abschottete, will der Sohn und Autor allein auf die Stigmatisierung zurückführen. Auch auf eigene Beziehungen blickt er stets aus dieser einen Perspektive. Als er mit seiner ersten Frau Roberta eine Familie gründet, schreibt er dazu nur: »Wer sonst würde mich jemals unterstützen. Aber ich lebte weiter mit dem Persönlichkeitsmuster, das ich als Junge entwickelt hatte.«
Dieses Muster deutet er allerdings nur an, ob mit Absicht oder ohne. Vielleicht ahnt er etwas von einem blinden Fleck. Das Buch widmet er seiner Schwester Sally, ihrem Leid hingegen nur ein paar Absätze darin. In langatmigen Details ergeht er sich über eigene berufliche Ambitionen und Erfolge und behauptet doch, einen stark emotionalen Zugang zur Welt zu haben. Spürbar wird das eigentlich nur, wenn es um die lang andauernde Fehldiagnose des Vaters geht. Der litt offenbar nicht unter Schizophrenie, sondern einer bipolaren Störung, also manisch-depressiven, teils psychotischen Episoden. Als der Vater einmal sagt, er könne Psychotiker erkennen, da er selbst einer sei, kommentiert der Autor: Sein Vater glaube wohl, verrückt, moralisch fehlerhaft, »nicht vollends ein Mensch« zu sein. Er sei aber »jemand mit bipolarer Störung«, viel eher als ein Verrückter, ein »Psychotiker«. Vielleicht ist das einer ungeschickten Übersetzung geschuldet, doch die Abgrenzung mutet angesichts des erklärten Anliegens merkwürdig an.
»Ein Plädoyer für eine offene Kommunikation, die Überwindung von Scham und Selbststigmatisierung«, wie drei deutsche Experten im Nachwort schreiben, ist das Buch nichtsdestoweniger. Und vielleicht zeugt auch die begrenzte Selbstreflexion von den Folgen des Stigmas: »eine andere Art Wahnsinn, die schlimmste Art von allen, weit über die psychische Krankheit selbst hinaus.«
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