Direkt zum Inhalt

Einsiedler bleiben auf der Strecke

Bis vor zirka 200 Jahren herrschte die Auffassung vor, dass Menschen sich von Tieren durch auf Sprache gestütztes Denken unterscheiden. Laut dem amerikanischen Anthropologen Michael Tomasello rührt das daher, "dass es in den ersten paar tausend Jahren der abendländischen Zivilisation keine nichtmenschlichen Primaten in Europa gab. Aristoteles und Descartes konnten ohne weiteres solche Dinge postulieren wie 'Nur Menschen haben Vernunft' (. . .), weil sie Menschen mit Vögeln, Ratten, verschiedenen Haustieren und gelegentlich mit Füchsen oder Wölfen verglichen." Erst im 19. Jahrhundert habe man Menschenaffen in zoologischen Gärten Europas präsentiert, und das habe zusammen mit den wissenschaftlichen Beiträgen Charles Darwins (1809-1882) die Perspektive verändert.

Menschenaffen sind durchaus in der Lage, sich etwas vorzustellen und rationale Schlüsse zu ziehen. Sie kooperieren auch miteinander, allerdings nur in egoistischer Absicht. Schimpansen kreisen beispielsweise gemeinsam kleine Affen ein. Derjenige, der das Opfer fängt, frisst es aber weitgehend allein und rückt die Reste nur heraus, wenn die anderen ihn bedrängen und anbetteln.

Da Kultur auf einer ausdifferenzierten Kooperation beruht, bei der Denken und Sprache wichtige Funktionen erfüllen, widmet sich Tomasello der Frage, ob und wie Menschenaffen miteinander kooperieren. Daraus versucht er zu rekonstruieren, welche Entwicklungen bei Frühmenschen eingesetzt haben könnten, die zu einer Intensivierung der Kooperation führten. Der Autor nimmt an, dass Frühmenschen vor etwa 400.000 Jahren erheblich enger zusammenarbeiteten als heutige Menschenaffen – vermutlich dazu gezwungen von Umwelteinflüssen bei der Nahrungssuche.

Denken, um zu kooperieren

In Kleingruppen von zumeist zwei Menschen, von denen Tomasello ausgeht, habe sich eine "geteilte Intentionalität" herausgebildet – der zentrale Begriff des Buchs. Tomasello definiert ihn folgendermaßen: "Denken, um zu ko-operieren: das ist, in gröbsten Zügen, die Hypothese der geteilten Intentionalität." Dazu gehöre die gegenseitige Beurteilung bei den Frühmenschen: Wer gut kooperierte, sei anderen vorgezogen worden. Sprache und Denken würden sich demnach dem Miteinander und der Kommunikation verdanken und könnten nicht individuell entwickelt worden sein. Das Denken besitze somit einen sozialen Charakter.

Damit widerspricht der Autor Theorien, die Gesellschaft und Politik mit Egoismus, Macht und Gewalt erklären wollen. Tomasello versucht jene Konzeption des deutschen Philosophen Jürgen Habermas zu bekräftigen, laut der Vernunft keine Gewalt ausübt, sondern grundsätzlich kommunikativ und kooperativ wirkt. Diese Rolle, so Tomasello, habe die Vernunft bereits bei den Frühmenschen gespielt. Alles in allem ein spannendes Buch mit konsequenter Argumentationslinie, wenn es auch andere Thesen zu wenig berücksichtigt.

Kennen Sie schon …

Gehirn&Geist – Faszination Gehirn: 38 Infografiken über unser Denken, Fühlen und Handeln

Weil Sprache allein nicht immer das beste Kommunikationsmittel ist, werden seit 2013 ausgewählte Inhalte auf eine andere Art präsentiert: in Infografiken. Denn manches lässt sich in Bildern so viel einfacher darstellen als mit Worten. In dieser Spezialausgabe von »Gehirn&Geist« präsentieren wir ein »Best-of« unserer Infografiken zu Psychologie, Hirnforschung und Medizin. Wie funktioniert unser Orientierungssinn? Was haben Darmbakterien mit der Psyche zu tun? Was macht eine angenehme Unterhaltung aus? Wie wirkt Alkohol im Gehirn? Und warum lassen wir uns im Supermarkt so leicht zu Spontankäufen animieren? Antworten auf diese und viele weitere Fragen finden Sie in dieser Spezialausgabe von »Gehirn&Geist«. Jede der 38 Grafiken im Heft widmet sich einem eigenen Thema.

Spektrum - Die Woche – Wann klingt eine Sprache schön?

Klingt Italienisch wirklich schöner als Deutsch? Sprachen haben für viele Ohren einen unterschiedlichen Klang, dabei gibt es kein wissenschaftliches Maß dafür. Was bedingt also die Schönheit einer Sprache? Außerdem in der aktuellen »Woche«: Rarer Fund aus frühkeltischer Zeit in Baden-Württemberg.

Spektrum - Die Woche – Eine Sprache für die Welt

Zur lebendigen Diversität unserer Welt gehört auch die Vielfalt der Sprachen, in denen Menschen kommunizieren. Doch könnte es übergeordnet auch eine Sprache geben, in der wir uns alle verständigen - wie Esperanto?

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.