Eine Frage des Sauerstoffs
Die Debatte zwischen Katastrophismus und Aktualismus ist ziemlich genau zweihundert Jahre alt. Der Katastrophismus, begründet vor allem vom französischen Naturforscher Georges Cuvier (1769-1832), postulierte, katastrophale Naturereignisse hätten eine herausragende Bedeutung für die Entwicklung des Lebens gehabt. Die Vertreter des Aktualismus hingegen, etwa der britische Geologe Charles Lyell (1797-1875) und der französische Zoologe Étienne Geoffroy Saint-Hilaire (1772-1844), gingen davon aus, die heute zu beobachtenden Vorgänge hätten sich ebenso in der Vergangenheit abgespielt – die Evolution sei also geradlinig verlaufen. Lange Zeit hatten die Aktualisten die Nase vorn, doch heute weiß man: Allein aus der Gegenwart lässt sich die Vergangenheit nicht verstehen; Katastrophen haben eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung des Lebens gespielt.
Dieser Ansicht sind auch der Paläontologe Peter Ward und der Geobiologe Joe Kirschvink. Sie gehen davon aus, "dass die Geschichte des Lebendigen durch Katastrophen stärker beeinflusst wurde als durch die Summe aller anderen Kräfte". Auf gut 500 Seiten wagen die beiden amerikanischen Wissenschaftler deshalb den Versuch, eine neue und umfassende Geschichte des Lebens zu schreiben, die insbesondere die Auswirkungen katastrophaler Naturereignisse im Blick hat. Als Vorbild diente ihnen nach eigener Aussage das Buch "Leben: eine Biografie" (1999) des britischen Paläontologen Richard Fortey, das wissenschaftlich allerdings nicht mehr auf dem aktuellen Stand ist.
Umweltgift Sauerstoff
Ward und Kirschvink konzentrieren sich weniger auf die oft beschriebenen Katastrophen wie Meteoriteneinschläge oder Vulkanausbrüche. Sie sind vielmehr davon überzeugt, dass der chemisch aggressive Sauerstoff und sein wechselnder atmosphärischer Gehalt die Entstehung und Ausbreitung des Lebens maßgeblich prägte.
Den Autoren zufolge war die Ausbreitung der Sauerstoff produzierenden Cyanobakterien vor zirka 2,3 Milliarden Jahren eines der folgenschwersten Ereignisse der Evolution, denn es führte zu einem Absinken der atmosphärischen CO2-Konzentration und damit zu einer globalen Abkühlung, sowie zu einer Vergiftung der damaligen anaeroben Lebewesen. Erst als der Sauerstoffgehalt infolge des Erscheinens Sauerstoff atmender Organismen wieder sank und sich ein neues Gleichgewicht im weltweiten Kohlenstoffkreislauf einstellte, sei der Weg für die Entwicklung weiterer Lebensformen freigeworden.
Auch der Landgang der Tiere fand erst statt, so Ward und Kirschvink, als der Sauerstoffanteil der Atmosphäre dies zuließ. Darüber hinaus sind die beiden Autoren davon überzeugt, auch die kambrische Explosion, also die gewaltige Vermehrung der Tierarten sowie die Entstehung neuer und innovativer "Baupläne" vor zirka 550 Millionen Jahren, sei mit dem steigenden Sauerstoffgehalt einhergegangen. Denn "offensichtlich sind der Sauerstoff- und der Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre [...] die wichtigsten Faktoren, die über die Artenvielfalt der Tiere bestimmen." Dennoch halten sie die Radiation der Tiere im Kambrium für "eines der größten paläontologischen Rätsel".
Sechstes Massenaussterben?
Neben den fünf großen Massenaussterben in der Erdgeschichte ("Big Five") gehen die Autoren von weiteren fünf kleineren Aussterbeereignissen aus. Zudem vergessen sie nicht, auf die Debatte um das aktuelle menschengemachte Massenaussterben hinzuweisen. Hier nehmen sie allerdings eine recht pragmatische Haltung ein und stellen fest, dass wir uns heute auf einem Gipfelpunkt der Artenzahl während der gesamten Geschichte des Lebens befinden. Den Autoren zufolge "lässt sich unmöglich beweisen, welcher Anteil der Lebensformen heute ausstirbt". Es sei deshalb unklar, ob das derzeitige Artensterben ein größeres, kleineres oder gar kein herausragendes Aussterbeereignis sei. Diese Einschätzung dürfte vielen missfallen, ist aber keine Einzelmeinung; der Paläontologe Norman MacLeod vom Londoner Natural History Museum hatte sich kürzlich ähnlich geäußert. Wards und Kirschvinks tröstlich gemeinter Hinweis darauf, dass nach jedem Massensterben die biologische Vielfalt sich erholt "und ein noch höheres Niveau erreicht hat", bewegt sich allerdings an der Grenze zum Zynismus.
Im letzten Kapitel spekulieren die Verfasser ernsthaft darüber, was mit der Erde in ein oder zwei Milliarden Jahren geschehen könnte – absurd in einer Situation, in der die Menschheit nicht weiß, ob sie die nächsten fünfzig Jahre überleben wird. Nach naivem Fortschrittsoptimismus der 1970er Jahre klingt es, wenn Ward und Kirschvink fantasieren, "dass unsere Spezies ihren Lebensraum zuerst auf den Mars, dann auf den Asteroidengürtel und am Ende auf andere Sterne erweitert", um der künftigen Zerstörung der Erde zu entkommen.
Davon abgesehen ist "Eine neue Geschichte des Lebens" ein äußerst informatives Buch zweier ausgesprochener Experten, das mit neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Evolution des Lebens beeindruckt.
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