Das Unendliche überblicken
Das war vom Autor, dem britischen Mathematiker Marcus de Sautoy, nicht anders zu erwarten: Seine Einführung in die von Georg Cantor entdeckten Eigenschaften unendlicher Mengen ist frei von Fachjargon, allgemein verständlich und sehr unterhaltsam.
Welche Inhalte werden in dem kurzen Buch vorgestellt? Zunächst liefert du Sautoy einen kleinen historischen Rückblick auf die Entwicklung des Zählens. Einkerbungen auf Knochen (mehrere zehntausend Jahre zurückliegend) hat man als Strichlisten erkannt, und auch die Höhlenmalereien von Lascaux weisen auf frühes Zählen hin. Schon die alten Ägypter, Mayas und Babylonier entwickelten nicht nur erste Zeichen für Zahlen, sondern erfanden auch Stellenwertsysteme. Die Mayas nutzten die 20 als Basis, die Babylonier die 60 – Relikte des Zahlsystems finden wir bis heute etwa in der Zeitrechnung.
Mengenvergleiche bei Aborigines
Um die elementweise Zuordnung zu erklären, die für den Rest des Buchs wichtig ist, findet der Autor eine etwas weit hergeholte Erklärung. Die Angkamuthi (ein Aborigines-Stamm in Australien) hat Zahlworte für 1, 2 und 3 und dann nur noch eines für »viele«. Trotzdem könnten sie feststellen, welcher von zwei Haufen von Pflaumen und Limetten, die beide viele Früchte enthalten, mehr enthält. Dafür entfernen sie nacheinander immer wieder so lange eine Frucht von jedem der beiden Haufen, bis (mindestens) einer weg ist.
Dann kommt du Sautoy zum Kern des Buchs und beschreibt das von David Hilbert ausgedachte »Hotel Unendlichkeit« mit Concierge Cantor am Empfang. Der kann unendlich viele mit dem Bus angereiste Gäste, die je eine natürliche Zahl 1, 2, 3, … als Anstecker bei sich tragen, in den unendlich vielen Hotelzimmern mit den Nummern 1, 2, 3, … unterbringen. Das wäre auch dann möglich, wenn die Gäste nur die geraden Zahlen 2, 4, 6, … am Anstecker trügen. Und schon kann der Autor daraus schließen, dass die Unendlichkeit der geraden Zahlen genauso groß ist wie die Unendlichkeit aller natürlichen Zahlen, weil »man sie perfekt einander zuordnen kann«.
Was aber ist zu tun, wenn ein Bus mit der »Reisegruppe der Bruchzahlen« ankommt? Für diese hat sich Cantor das erste Diagonalverfahren ausgedacht, das der Autor als »raffiniert« und »Geniestreich« bezeichnet. Zudem erklärt er anschaulich, wie die Gäste untergebracht werden. Und resümiert, dass die Unendlichkeit der Bruchzahlen ebenfalls so groß ist wie die der natürlichen Zahlen.
Um jedoch zu verdeutlichen, dass nicht alle Unendlichkeiten gleich groß sind, schiebt du Sautoy ein Kapitel über irrationale Zahlen ein. Darin stellt er die Kreiszahl pi und die Quadratwurzel aus zwei vor und reichert das mit einigen historischen Bemerkungen über diese beiden Werte an. Damit kann der Autor das zweite cantorsche Diagonalverfahren präsentieren. Auch hier begründet er einfach und anschaulich, dass nicht alle Gäste, die eine irrationale Zahl auf ihrem Anstecker tragen, im Hotel unterkommen können. Also handelt es sich bei dieser Unendlichkeit um eine »wahrhaft größere«.
Selbst wenn es sich bei dem Buch bloß um eine Einführung handelt, wünscht man sich doch, etwas mehr zu dem Thema zu erfahren. Gibt es nur diese zwei Unendlichkeiten? Liegt zwischen diesen beiden vielleicht noch eine? Diese Frage beschäftigt das Fach bereits seit Jahrzehnten als Kontinuumshypothese – und hätte gut in das Buch gepasst. Der geometrische Aspekt, wonach man die Punkte einer Ebene eins zu eins auf die Punkte einer Geraden abbilden kann, hätte den Inhalt noch abgerundet und einen Ausblick auf Fraktale ermöglicht. Aber es ist ja nicht nur eine Einführung, sondern im Titel angekündigt eine »sehr kurze« – vielleicht sogar eine zu kurze. Wer also mehr erfahren möchte, muss sich weitere Literatur suchen.
Das Buch ist anregend und lehrreich und jenen zu empfehlen, die von dem Thema noch nichts gehört oder gelesen haben. Hoffentlich werden sie vom überzeugenden und amüsanten Stil des Autors und den überraschenden Eigenschaften des Unendlichen zur weiteren Beschäftigung damit animiert.
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