Allein, allein
Die Erfahrung von Einsamkeit gehört zum Menschen. Sie ist Teil unseres seelischen Repertoires wie Trauer und Freude. Und in gewissem Sinne begleitet sie uns ständig: In Einsamkeit begegnen wir uns selbst, empfinden heimliches Glück, aber auch den Schmerz des Verlassenseins. Einsamkeit hat viele Gesichter.
Manfred Spitzer, Professor für Psychiatrie an der Universität Ulm, gewährt in seinem neuen Buch Einblick in die pathologische Dimension von Einsamkeit und ihre weite Verbreitung, die sich ihm zufolge etwa anhand der Wohnsituationen ermessen lässt: Unter den 41 Millionen gemeldeten Haushalten 2015 waren knapp 17 Millionen Singlehaushalte. Außerdem zeigt der Psychiater Wege aus der Einsamkeit auf.
In jüngerer Zeit sind unzählige wissenschaftliche Publikationen erschienen, welche die medizinische Relevanz der Einsamkeitsproblematik betonen. Unterm Strich lautet das Ergebnis: »Einsamkeit macht krank.« Der Autor spitzt dies noch zu: Ihm zufolge ist Einsamkeit nicht nur ein Symptom, sondern selbst eine Krankheit. Er hält sie sogar für die »Todesursache Nummer eins«.
Fragwürdiger Moralismus
Dass Einsamkeit in unserer Gesellschaft ein ernsthaftes Problem ist, zweifelt kaum einer an. Und vielleicht sind Instagram und Facebook oft wirklich nicht die besten Mittel, um das Bedürfnis nach Miteinander und Verbundenheit zu stillen. Trotzdem wirkt es befremdlich, wie moralisierend der Psychiater die vermeintlich narzisstische Jugendkultur und deren »Mediatisierung« anprangert, der er unverblümt die grassierende Einsamkeit in die Schuhe schiebt.
Seltsam erscheint auch Spitzers erklärter Ehrgeiz, all seine Argumente mit wissenschaftlichen Studien belegen zu wollen. So heißt es an einer Stelle, der Kontakt zu Freunden scheine eine protektive Wirkung gegenüber sozialem Schmerz zu haben, also gegenüber Einsamkeit. Muss man diese Behauptung wirklich mit einer Studie belegen? Auch noch hypothetisch, so als könnten Messfehler vorliegen? Ähnlich abstrus klingt es, wenn Spitzer die »Ansteckungsgefahr« der Einsamkeit resümiert: »Frauen sind ansteckender als Männer, Nachbarn sind ansteckender als Verwandte; und je weiter jemand entfernt wohnt, desto weniger ist seine Einsamkeit ansteckend.«
Am bedauerlichsten ist jedoch, dass Spitzer seine These, Einsamkeit sei nicht nur ein Symptom, sondern selbst eine Krankheit, nicht einlöst. Einsamkeit heißt in Spitzers Buch alles und nichts. Mal wird sie als »Krankheit« dämonisiert, mal ist sie eine »Verhaltens- und Erlebnisweise«, mal gehört sie zum Menschen wie etwa das Altern und stellt einen »nichtmedizinischen Zustand« dar, dann ist sie ein »Leitsymptom« psychischer Erkrankungen oder im Gegensatz zur sozialen Isolation ein »subjektives Erleben«. Dass man sich zum Beispiel einsam fühlen kann, obwohl man nicht sozial isoliert ist und umgekehrt, stellt der Autor zwar fest, erklärt das Phänomen jedoch nicht. Bei einem so bedeutenden Thema wären strengere begriffliche Unterscheidungen wichtig gewesen. Denn so wird beim Lesen nicht klar, wann Einsamkeit tatsächlich krank macht und wann sie unbedenklich ist.
Manche Aussagen könnten nach Rat suchende Leser sogar verstören. Die heikle Beobachtung etwa, dass die soziale Isolierung einzelner Individuen den Erhalt der Gruppe als ganze fördere, bleibt in ihrer moralischen Verfänglichkeit einfach unkommentiert.
Was empfiehlt Spitzer gegen die Einsamkeit? Geben, Helfen (möglichst ohne Stress), Musizieren, Singen und Tanzen. Das ist alles schön und gut. Aber sind die wirklich Einsamen unserer Gesellschaft dazu überhaupt noch fähig? Zuletzt widerspricht er seiner eingangs formulierten Behauptung selbst, indem er betont: Einsamkeit könne auch gesund sein, vor allem in der Natur, da diese Ehrfurcht und Empathie lehre, den egomanen Materialismus entzaubere und Raum für Spiritualität lasse.
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