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»Einsamkeit«: Wir werden einsamer

Udo Rauchfleisch beleuchtet ein Problem, das in den letzten Jahrzehnten immer drängender geworden ist, aber kaum angemessen diskutiert wird: Einsamkeit.
Frau alleine im Cafe, stützt das Kinn auf die Hand und schaut aus dem Fenster.

Immer wieder werden einzelne Diagnosen oder Herausforderungen zu »Volkskrankheiten« oder »Problemen unserer Zeit« hochstilisiert. Tatsache ist: Die moderne und vor allem die westliche Welt steht seit der Industrialisierung in immer kürzeren Abständen vor großen Veränderungen und neuen Herausforderungen. Die offensichtlichste – weil medial mit am stärksten beachtete – ist der menschengemachte Klimawandel. Während das »Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache« (DWDS) für das Wort »Klimawandel« im Jahr 2000 eine Frequenz von 0,84 angibt (für das relative Vorkommen eines Wortes in einem ausgewerteten Zeitungskorpus pro eine Million Wörter), betrug sie 2023 52,85: ein unfassbarer Anstieg. Beim Wort »Depression« ist für den Zeitraum von 1950 bis 2023 fast eine Verzehnfachung (1,57 zu 15,49) zu beobachten. Beide Phänomene können also mit gewissem Recht als »Probleme unserer Zeit« bezeichnet werden.

Ein anderer Begriff scheint weniger häufig im Zentrum zu stehen: »Einsamkeit«. Das DWDS gibt für ihn eine schwankende Kurve an, die mit Frequenzwerten um 6 in den 1950er Jahren bereits hoch ist, in den 1990er Jahren auf 9 ansteigt und heute immer noch einen ähnlichen Wert zeigt (2023: 9,17). Ist Einsamkeit heute also gar nicht viel problematischer als vor 30 Jahren? Das verneint Udo Rauchfleisch, Schweizer Psychologe, Psychoanalyst und emeritierter Professor für Psychotherapie, und kann dabei auch auf Statistiken verweisen: Laut Barmer Krankenkasse fühlte sich etwa bereits im Jahr 2017, also noch vor Beginn der Corona-Pandemie, in Deutschland jeder Zehnte regelmäßig einsam. Diese Zahl dürfte seit 2020, dem Jahr des Pandemiebeginns, noch einmal deutlich höher liegen.

Einsamkeit und Verschwörungstheorien

Der Autor beleuchtet die Einsamkeit in sechs Kapiteln. Die ersten vier Kapitel untersuchen ihre Ursachen, das fünfte ihre (nicht nur psychischen) Folgen, das letzte Kapitel bietet schließlich Lösungsvorschläge an. Der Autor geht dabei auch innerhalb der Kapitel strukturiert vor und belegt seine Argumente sehr gut, wozu das ausführliche Quellenverzeichnis beiträgt. Immer wieder geht er auch auf sehr aktuelle Zusammenhänge ein, etwa den zwischen Einsamkeit und Verschwörungstheorien. Rauchfleisch konstatiert, dass die zunehmende Komplexität der Welt bei vielen Menschen zu Verunsicherung führe, was wiederum einfache Erklärungen und Lösungen umso attraktiver mache. Solche Lösungen haben häufig das Potenzial, andere vor den Kopf zu stoßen, können daher zu Isolation und, in der Folge, zur Vereinsamung führen. Immer wieder finden sich zu solchen und ähnlichen Gedankengängen typografisch abgesetzte Studien, die sich mit tatsächlichen Fällen befassen, die Argumentation stützen und den Fließtext auflockern. Das Werk liest sich flüssig und setzt keine Vorkenntnisse voraus. Bisweilen kommen dem Leser zwar gewisse Unterscheidungen künstlich vor – etwa die zwischen individuellen und zwischenmenschlichen Ursachen von Einsamkeit, die de facto immer wieder zusammenfallen –, dies tut der Freude beim Lesen aber kaum Abbruch und ist vor dem Hintergrund der sonst präzisen Struktur verzeihlich.

Nach der Lektüre hat sich der Eindruck gefestigt: Einsamkeit ist hier zu Lande noch viel zu selten Thema. Udo Rauchfleisch könnte mit seinem Buch daran etwas ändern, vermittelt es doch überzeugend, wie weit verbreitet und folgenreich dieses Gefühl ist. Vielleicht verzeichnet das DWDS dann in einigen Jahren einen signifikanten Anstieg bei der Verwendung des Wortes »Einsamkeit« und belegt so, dass dieses Problem gegenüber anderen Herausforderungen der Gegenwart endlich an Sichtbarkeit gewonnen hat.

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