Buchkritik zu »Einsteins Schleier«
Warum faszinieren uns Resultate der physikalischen Grundlagenforschung? Wir möchten die Natur verstehen, wir wüssten gern, wie die Welt funktioniert, in der wir leben. Das große Versprechen der Naturwissenschaft heißt Komplexitätsreduktion: Die verwirrende Vielfalt der Erscheinungen soll auf immer weniger Grundprinzipien, Formeln, Elementarteilchen zurückgeführt werden.
Doch die aktuelle Lage ist unübersichtlich. Die "Theorie von Allem", die einheitliche Weltformel für alle Teilchen und ihre Wechselwirkungen, zeichnet sich nicht einmal in Umrissen ab, auch wenn Generationen von Physikern – zuletzt Stephen Hawking – immer wieder das große Ziel zum Greifen nah wähnten. Zwei mächtige Theoriegebäude stehen unversöhnt nebeneinander: Einsteins Relativitätstheorie beschreibt eine schwache Kraft unendlicher Reichweite, die Gravitation, und somit das Verhalten großer Massen. Die Quantentheorie ist eher zuständig für die Materie im Kleinen; sie ist darin so erfolgreich, dass die Physiker überzeugt sind, die künftige Theorie von Allem könne nur über eine Quantisierung der Gravitation gelingen. Die endgültige Theorie wird eine Quantentheorie sein.
Insofern ist es doppelt peinlich, dass bis heute niemand die Quantentheorie wirklich "versteht". Die Haltung der meisten Forscher dazu ist rein pragmatisch: Da die Theorie in der Praxis ungeheuer erfolgreich ist, findet man sich mit ihrem kontra-intuitiven Wesen ab.
Der österreichische Physiker Anton Zeilinger hat in den letzten Jahren durch eine Serie Aufsehen erregender Experimente demonstriert, dass die Quantenphysik so seltsam ist, wie die Theorie vorhersagt. Es gelang ihm, mehrere Gedankenexperimente, die im Laufe des historischen Streits um die "richtige" Interpretation ersonnen worden waren, praktisch durchzuführen. Das Ergebnis: Quantensysteme verhalten sich wirklich ganz anders, als wir es von Objekten des Alltags gewohnt sind. Die herrschende Theorie des Mikrokosmos ist zugleich erfolgreich und unbegreiflich. Hinter dem "Schleier", von dem Einstein in der Entstehungsphase der Quantenphysik sprach, erblicken wir etwas, das unserem gewohnten Verständnis von Wirklichkeit widerspricht.
Wir sind gewohnt, dass ein Ding ist, wie es ist – unabhängig davon, ob und wie wir es messen. Doch Quantensysteme existieren als Superpositionen mehrerer möglicher Zustände, und erst der Messvorgang entscheidet, welcher Zustand wirklich eintritt. Zeilinger erzeugte im Labor so genannte verschränkte Zustände, in denen zwei Teilchen über große Entfernungen als einheitliches Quantensystem agieren. Wird der eine Partner gemessen, so nimmt nicht nur er einen der theoretisch möglichen Werte an, sondern auch der Zustand des anderen Partners zeigt augenblicklich den entsprechenden Wert. Das heißt, der zweite Partner entscheidet sich für ein bestimmtes unter mehreren möglichen Messresultaten, obwohl an ihm gar keine Messung durchgeführt wurde.
Die Verschränkung wiederum nutzte Zeilinger, um die so genannte Teleportation zu demonstrieren – früher eine bloße Science-Fiction-Idee. Es gelang ihm, ein einzelnes Lichtquant an einem Ort zusammen mit einem Partner eines verschränkten Teilchenpaars zu messen und dadurch augenblicklich an einem – theoretisch beliebig weit – entfernten Ort ein identisches Lichtquant zu erzeugen. Unterdessen beherrscht Zeilingers Team an der Universität Wien das Kunststück, Teilchen quer über die Donau zu teleportieren oder Quantenverhalten an Fulleren-Molekülen aus sechzig Kohlenstoffatomen – also an dafür ungewöhnlich großen Objekten – zu demonstrieren.
In seinem Buch versucht Zeilinger nun, in möglichst einfachen Worten seine Experimente zu erläutern und in den Rahmen der Quantentheorie zu stellen. Er verzichtet auf Formeln und Diagramme, sucht mit einfachen Skizzen auszukommen; die Sprache ist die eines mündlichen Vortrags für Laien. Stets ist er bemüht, Schritt für Schritt nachvollziehbar vorzugehen. Der Leser ist dafür dankbar, denn die dargestellten Zusammenhänge sind schon kompliziert genug.
In der Regel gelingt das Vorhaben. Nur selten stößt die Umgangsprache an ihre Grenzen, so wenn Zeilinger an einer wichtigen Stelle die Quintessenz des Bell'schen Theorems darstellen möchte. Dabei geht es um einen quantentheoretisch und wissenschaftshistorisch entscheidenden Punkt: John S. Bell zeigte 1964 zur allgemeinen Überraschung, dass es einen empirischen Test dafür gibt, ob die Verschränkung zweier Quantenteilchen prinzipiell im Rahmen der klassischen Physik erklärt werden kann oder nicht. Und nun lässt Zeilinger die Katze aus dem Sack: "Und zwar sagt die Quantenphysik, dass für kleine Winkel [zwischen zwei Spinmessgeräten] die Korrelationen fast nicht abnehmen, die Abnahme aber dann mit zunehmendem Winkel zwischen den beiden Richtungen stärker wächst." Der Leser kann nicht folgen. Das mit der stärker wachsenden Abnahme wäre anhand eines simplen Diagramms sofort einsichtig; die sprachliche Umschreibung aber versagt, als wollte Zeilinger einem Blinden Farben veranschaulichen.
Im letzten Kapitel diskutiert Zeilinger übliche Versuche, die Quantentheorie zu interpretieren. Er bekennt sich eindeutig zur ursprünglichen "Kopenhagener Deutung" von Niels Bohr und Werner Heisenberg; heute oft diskutierte Deutungen wie die Vielwelten-Theorie und vor allem das Dekohärenz-Modell tut er mit wenigen Worten ab; das geht ein wenig auf Kosten der Fairness.
Als naturphilosophische Quintessenz seiner Erfahrungen mit der Quantenphysik kommt Zeilinger zu dem Schluss: "Wirklichkeit und Information sind dasselbe." Da er zuvor schreibt, Information sei "letztlich nichts anderes als Antworten auf Fragen, die wir stellen", gerät er in Gefahr, die Physik in etwas Willkürliches oder vom Bewusstsein des Beobachters Abhängiges aufzulösen. Mit diesem nahe liegenden Einwand setzt er sich auf den letzten Seiten allerdings explizit auseinander und meint, dass die Information "offenbar in gewisser Weise auch unabhängig vom Beobachter besteht."
Mir kommt Zeilingers Deutung trotz dieses etwas gequälten Bekenntnisses zur Objektivität doch sehr subjektivistisch vor. Er geht sogar so weit, die Quantelung der Natur auf die Ja-Nein-Struktur unserer Aussagen über die Natur zurückzuführen. Doch wenn die Quantenphysik Ausdruck unseres Denk- und Sprachapparats ist – mit Zeilingers Worten: "eine Konsequenz der Tatsache, dass die Welt der Repräsentant unserer Aussagen ist" –, dann frage ich mich, warum wir ausgerechnet die Quantentheorie so fremdartig, ja unbegreiflich finden.
Vielleicht sollte man, statt wie Bohr, Heisenberg und Zeilinger bei der Analyse des Messproblems vom Bewusstsein des Beobachters zu sprechen, lieber konsequent den Messapparat betrachten, der mit dem Quantensystem wechselwirkt. Dann gelangt man automatisch zu einer Form des Dekohärenzmodells: Die Wechselwirkung zwischen Quantensystem und Messgerät reduziert die Zustandssuperposition zu dem Zustand, der tatsächlich gemessen wird.
Aber letztlich sind solche Nuancen Geschmackssache. Das Buch ist ein aufschlussreiches Lesevergnügen, denn Zeilinger erzählt aus erster Hand von der experimentellen Erforschung der Quantenwelt. Gerade dort, wo er mit dem Erzählen in Schwierigkeiten gerät, macht er zudem auf plastische Weise deutlich, wie fremd die Wirklichkeit ist, die hinter Einsteins Schleier Stück für Stück zum Vorschein kommt.
Doch die aktuelle Lage ist unübersichtlich. Die "Theorie von Allem", die einheitliche Weltformel für alle Teilchen und ihre Wechselwirkungen, zeichnet sich nicht einmal in Umrissen ab, auch wenn Generationen von Physikern – zuletzt Stephen Hawking – immer wieder das große Ziel zum Greifen nah wähnten. Zwei mächtige Theoriegebäude stehen unversöhnt nebeneinander: Einsteins Relativitätstheorie beschreibt eine schwache Kraft unendlicher Reichweite, die Gravitation, und somit das Verhalten großer Massen. Die Quantentheorie ist eher zuständig für die Materie im Kleinen; sie ist darin so erfolgreich, dass die Physiker überzeugt sind, die künftige Theorie von Allem könne nur über eine Quantisierung der Gravitation gelingen. Die endgültige Theorie wird eine Quantentheorie sein.
Insofern ist es doppelt peinlich, dass bis heute niemand die Quantentheorie wirklich "versteht". Die Haltung der meisten Forscher dazu ist rein pragmatisch: Da die Theorie in der Praxis ungeheuer erfolgreich ist, findet man sich mit ihrem kontra-intuitiven Wesen ab.
Der österreichische Physiker Anton Zeilinger hat in den letzten Jahren durch eine Serie Aufsehen erregender Experimente demonstriert, dass die Quantenphysik so seltsam ist, wie die Theorie vorhersagt. Es gelang ihm, mehrere Gedankenexperimente, die im Laufe des historischen Streits um die "richtige" Interpretation ersonnen worden waren, praktisch durchzuführen. Das Ergebnis: Quantensysteme verhalten sich wirklich ganz anders, als wir es von Objekten des Alltags gewohnt sind. Die herrschende Theorie des Mikrokosmos ist zugleich erfolgreich und unbegreiflich. Hinter dem "Schleier", von dem Einstein in der Entstehungsphase der Quantenphysik sprach, erblicken wir etwas, das unserem gewohnten Verständnis von Wirklichkeit widerspricht.
Wir sind gewohnt, dass ein Ding ist, wie es ist – unabhängig davon, ob und wie wir es messen. Doch Quantensysteme existieren als Superpositionen mehrerer möglicher Zustände, und erst der Messvorgang entscheidet, welcher Zustand wirklich eintritt. Zeilinger erzeugte im Labor so genannte verschränkte Zustände, in denen zwei Teilchen über große Entfernungen als einheitliches Quantensystem agieren. Wird der eine Partner gemessen, so nimmt nicht nur er einen der theoretisch möglichen Werte an, sondern auch der Zustand des anderen Partners zeigt augenblicklich den entsprechenden Wert. Das heißt, der zweite Partner entscheidet sich für ein bestimmtes unter mehreren möglichen Messresultaten, obwohl an ihm gar keine Messung durchgeführt wurde.
Die Verschränkung wiederum nutzte Zeilinger, um die so genannte Teleportation zu demonstrieren – früher eine bloße Science-Fiction-Idee. Es gelang ihm, ein einzelnes Lichtquant an einem Ort zusammen mit einem Partner eines verschränkten Teilchenpaars zu messen und dadurch augenblicklich an einem – theoretisch beliebig weit – entfernten Ort ein identisches Lichtquant zu erzeugen. Unterdessen beherrscht Zeilingers Team an der Universität Wien das Kunststück, Teilchen quer über die Donau zu teleportieren oder Quantenverhalten an Fulleren-Molekülen aus sechzig Kohlenstoffatomen – also an dafür ungewöhnlich großen Objekten – zu demonstrieren.
In seinem Buch versucht Zeilinger nun, in möglichst einfachen Worten seine Experimente zu erläutern und in den Rahmen der Quantentheorie zu stellen. Er verzichtet auf Formeln und Diagramme, sucht mit einfachen Skizzen auszukommen; die Sprache ist die eines mündlichen Vortrags für Laien. Stets ist er bemüht, Schritt für Schritt nachvollziehbar vorzugehen. Der Leser ist dafür dankbar, denn die dargestellten Zusammenhänge sind schon kompliziert genug.
In der Regel gelingt das Vorhaben. Nur selten stößt die Umgangsprache an ihre Grenzen, so wenn Zeilinger an einer wichtigen Stelle die Quintessenz des Bell'schen Theorems darstellen möchte. Dabei geht es um einen quantentheoretisch und wissenschaftshistorisch entscheidenden Punkt: John S. Bell zeigte 1964 zur allgemeinen Überraschung, dass es einen empirischen Test dafür gibt, ob die Verschränkung zweier Quantenteilchen prinzipiell im Rahmen der klassischen Physik erklärt werden kann oder nicht. Und nun lässt Zeilinger die Katze aus dem Sack: "Und zwar sagt die Quantenphysik, dass für kleine Winkel [zwischen zwei Spinmessgeräten] die Korrelationen fast nicht abnehmen, die Abnahme aber dann mit zunehmendem Winkel zwischen den beiden Richtungen stärker wächst." Der Leser kann nicht folgen. Das mit der stärker wachsenden Abnahme wäre anhand eines simplen Diagramms sofort einsichtig; die sprachliche Umschreibung aber versagt, als wollte Zeilinger einem Blinden Farben veranschaulichen.
Im letzten Kapitel diskutiert Zeilinger übliche Versuche, die Quantentheorie zu interpretieren. Er bekennt sich eindeutig zur ursprünglichen "Kopenhagener Deutung" von Niels Bohr und Werner Heisenberg; heute oft diskutierte Deutungen wie die Vielwelten-Theorie und vor allem das Dekohärenz-Modell tut er mit wenigen Worten ab; das geht ein wenig auf Kosten der Fairness.
Als naturphilosophische Quintessenz seiner Erfahrungen mit der Quantenphysik kommt Zeilinger zu dem Schluss: "Wirklichkeit und Information sind dasselbe." Da er zuvor schreibt, Information sei "letztlich nichts anderes als Antworten auf Fragen, die wir stellen", gerät er in Gefahr, die Physik in etwas Willkürliches oder vom Bewusstsein des Beobachters Abhängiges aufzulösen. Mit diesem nahe liegenden Einwand setzt er sich auf den letzten Seiten allerdings explizit auseinander und meint, dass die Information "offenbar in gewisser Weise auch unabhängig vom Beobachter besteht."
Mir kommt Zeilingers Deutung trotz dieses etwas gequälten Bekenntnisses zur Objektivität doch sehr subjektivistisch vor. Er geht sogar so weit, die Quantelung der Natur auf die Ja-Nein-Struktur unserer Aussagen über die Natur zurückzuführen. Doch wenn die Quantenphysik Ausdruck unseres Denk- und Sprachapparats ist – mit Zeilingers Worten: "eine Konsequenz der Tatsache, dass die Welt der Repräsentant unserer Aussagen ist" –, dann frage ich mich, warum wir ausgerechnet die Quantentheorie so fremdartig, ja unbegreiflich finden.
Vielleicht sollte man, statt wie Bohr, Heisenberg und Zeilinger bei der Analyse des Messproblems vom Bewusstsein des Beobachters zu sprechen, lieber konsequent den Messapparat betrachten, der mit dem Quantensystem wechselwirkt. Dann gelangt man automatisch zu einer Form des Dekohärenzmodells: Die Wechselwirkung zwischen Quantensystem und Messgerät reduziert die Zustandssuperposition zu dem Zustand, der tatsächlich gemessen wird.
Aber letztlich sind solche Nuancen Geschmackssache. Das Buch ist ein aufschlussreiches Lesevergnügen, denn Zeilinger erzählt aus erster Hand von der experimentellen Erforschung der Quantenwelt. Gerade dort, wo er mit dem Erzählen in Schwierigkeiten gerät, macht er zudem auf plastische Weise deutlich, wie fremd die Wirklichkeit ist, die hinter Einsteins Schleier Stück für Stück zum Vorschein kommt.
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