Die Kunst, für sich zu sein
Der Philosoph und Publizist Rüdiger Safranski (* 1945), bekannt als Autor philosophisch-kulturgeschichtlicher Biografien etwa über Arthur Schopenhauer oder Friedrich Schiller, bringt das Kunststück fertig, knapp 20 Kurzporträts von Gelehrten und Künstlern aus fünf Jahrhunderten in einem Buch zu vereinen. Als Klammer dient ihm dabei die Auseinandersetzung mit dem Individuellen, das Ringen der Protagonisten um das eigene, unabhängige Denken in Epochen, die auf unterschiedliche Weise das Kollektiv und die Masse feierten.
Safranski beginnt bei der neuzeitlichen Hinwendung zum Individuum in der italienischen Renaissance, dargestellt am Beispiel von Pico della Mirandola, Aretino und Machiavelli. Über Luther und Montaigne sowie die französischen Aufklärer Rousseau und Diderot gelangt er zu drei Exzentrikern des 19. Jahrhunderts: Max Stirner, Søren Kierkegaard und Henry David Thoreau. Nach dem »Dichterfürsten« Stefan George, der weit bescheideneren Ricarda Huch und dem Soziologen Max Weber bespricht er die philosophischen Konzeptionen von Jaspers, Heidegger, Arendt und Sartre. Den Schlusspunkt setzt der Schriftsteller und Weltkriegsveteran Ernst Jünger.
So weit der Bogen der Fallbeispiele reicht, so prägnant schildert Safranski jeweils auf nur wenigen Seiten, wie die Betreffenden ihr Denken vor den geistigen Strömungen und Vereinnahmungen ihrer Zeit bewahren wollten – mit mal mehr, mal weniger Erfolg. Schade nur, dass dem Autor und seinem Lektorat einige erstaunliche Fehler durchrutschten, etwa wenn Luther an gleich zwei Stellen im Buch ins 17. Jahrhundert vor- und Kierkegaard dorthin zurückversetzt wird.
Tiefere Einsichten gewinnen
Geistiges und kreatives Schaffen, so das Fazit, ist im Kern ein einsames Geschäft. Es bedarf der Absonderung und Ruhe, der kritischen Distanz, wobei der negative Beigeschmack des Wortes »einsam« hier fehl am Platz ist. Denn nur mit der Lust am Einzelnsein findet man, was dem Herdentier versagt bleibt: tiefere Einsichten in das Leben und die Kunst, die wiederum das Potenzial besitzen, andere zu inspirieren.
Auf den Punkt gebracht wird das im Kapitel über Hannah Arendt, deren Kredo Safranski so paraphrasiert: »Beim Thema des Denkens rückt das Problem des Einzeln-Seins ins Zentrum. Denken (…) bedarf des Alleinseins, der zeitweiligen Unterbrechung des Kommunikationsflusses. Denken vereinzelt.«
In unserer Zeit erscheint diese Botschaft ebenso wichtig. Die vermeintliche Schwarmintelligenz des Internets sowie das Stammesdenken und die Rudelbildung in sozialen Medien hindert viele am selbstständigen Urteilen. Zwar will fast jeder gern möglichst individuell sein, hechelt dann aber doch lieber dem Zeitgeist hinterher oder verirrt sich in die schrägen Weltbilder so mancher Chatgruppen und digitalen Filterblasen.
Da tut es gut, sich daran zu erinnern, dass klares, unabhängiges Denken kaum funktioniert, wenn man sich nach Likes und der behaglichen Wärme einer Gemeinschaft sehnt. Zum Alleinsein gehört Mut und ein gewisses Maß an Widerständigkeit. Insofern liest sich Safranskis Buch wie ein Gegenentwurf zu der vielfach beklagten Vereinzelung in unserer Gesellschaft. Sich selbst zu genügen und frohgemut für sich sein zu können, ist eine Kunst, die man nicht geringschätzen sollte.
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