»Entmenschlicht«: Wie eine Kampfschrift sich selbst entwertet
Wer über die Gräuel von Sklaverei, Menschenhandel und Ausbeutung schreibt, kann seine Emotionen wohl kaum im Zaum halten. Und selbstverständlich wird man ihre Erscheinungsformen moralisch verurteilen. Aber von einem Sachbuch, in dem von solchen »unangenehmen Wahrheiten« die Rede ist, dürfen Leserinnen und Leser zu Recht auch ein Mindestmaß an nüchterner analytischer Distanz erwarten, da sonst die Glaubwürdigkeit leidet.
Fehlende Distanz
Diese innere Distanz vermisst man zu häufig bei dem Werk der beiden Schweizer Journalisten Martin Arnold und Urs Fitze. »Entmenschlicht. Sklaverei im 21. Jahrhundert« ist zwar eine engagierte Kampfschrift gegen abscheuliche Tatsachen, aber dann doch zu wenig Sachbuch. Der Text erscheint überaus hastig zusammengestellt, der Stil galoppiert, die Autoren kommen gleichsam von Hölzchen auf Stöckchen.
Das Buch startet mit einem historischen Abriss zur Sklaverei, dem der rote Faden komplett fehlt. Die Autoren springen zusammenhanglos durch die Zeiten, von Land zu Land über Kontinente, Völker und Kulturen hinweg. Auch der Versuch, die Linie zu retten, indem sie sporadisch der Geschichte einer Sklavenfamilie von Haiti über Kuba in die USA bis schließlich ins heutige Frankreich folgen, scheitert als integrierendes Narrativ: Ein Sinn stiftender Zusammenhang zur übrigen historischen Entwicklung fehlt.
Hinzu kommt, dass Arnold und Fitze zwar viel Literatur zitieren, die Zitate aber nicht belegen. Die Bücherliste im Anhang hilft beim Selbststudium, nicht jedoch zur Prüfung des zitierten Materials. Doch das ist bitter nötig, da den beiden schon einfache Fehler nachzuweisen sind. So verschieben sie das Erscheinen des Gesetzeswerkes »Code Noir« um rund elf Jahre auf 1998, das der katalanisch-französische Philosoph Louis Sala-Molins 1987 im Vorfeld zum 200. Jahrestag der Französischen Revolution kommentiert herausgebracht hat. Das Gesetzeswerk reglementierte die Sklaverei in den französischen Kolonien von 1684 bis 1848. Solche banalen und weitere Fehler erwecken Misstrauen gegenüber der Arbeit der Autoren.
Im zweiten Teil scheinen »Gesichter der modernen Sklaverei« auf: »Haushalt und Menschenhandel«, »Schuldknechtschaft«, »Kindersoldaten und Kinderarbeit« bis hin zu »Zwangsehen«, dem indischen »Kastenwesen« und den Qualen inhaftierter Uiguren in Umerziehungslagern im chinesischen Xinjiang. Dieser Teil krankt daran, dass es keine einheitliche Definition von moderner Sklaverei zu geben scheint. Die Autoren versäumen leider die Chance, sich theoretisch damit auseinandersetzen, um deren Erscheinungen besser analytisch zuzuordnen. Indem sie jegliche Form von Ausbeutung undifferenziert unter »moderne Sklaverei« subsumieren, entsteht beim Lesen der Eindruck von Beliebigkeit. Ihr Hauptanliegen zielt zu sehr auf ein Kampfbuch gegen jegliche Form der Ausbeutung; dem wird alles untergeordnet. Das ist so gesehen unterstützenswert, für den Anspruch eines Sachbuchs aber zu wenig.
Deutlich wird das zum Beispiel im Kapitel »Sklaverei im Haushalt«, in dem nicht repräsentative negative Einzelschicksale osteuropäischer Pflegerinnen in reichen Schweizer Haushalten beschrieben sind. Einzelfälle begründen eben keine Allgemeinheit. Im darauf folgenden Interview mit Doro Winkler vom Bereich Fachwissen und Advocacy der Fachstelle Frauenhandel und Migration der Schweiz versuchen die Autoren sie mit Suggestivfragen für ihre Sicht zu gewinnen. Sie bleibt aber nüchtern, sachlich und antwortet sehr klar differenzierend.
Während das Kapitel »Schuldknechtschaft« eindrucksvoll Sklaverei in Fazendas des brasilianischen Nordens beschreibt und das anschließende Interview mit »Feliciano« diesen Eindruck bestärkt, ist es völlig unpassend, die »Heimarbeit 4.0« in einem späteren Kapitel der modernen Sklaverei zuzurechnen.
Insgesamt gewinnt man den Eindruck, dass die Autoren zu viel gewollt haben, anstatt sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und dessen Tiefe auszuloten. Leider entwerten sie so ihren Beitrag zu diesem wichtigen Thema. Schade, denn beide besitzen gute bis umfassende Kenntnisse über Sklaverei und Menschenhandel sowie die Fähigkeit, verständlich zu schreiben. Aber der Versuch, sich allein mit Aktivismus dem Thema zu stellen, muss zwangsläufig dort scheitern, wo hin und wieder Nüchternheit und saubere Analyse gefordert sind.
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