»Epistemische Ungerechtigkeit«: Diskriminierung aus philosophischer Sicht
Der Begriff Epistemologie bezeichnet in der Philosophie (vor allem in der angelsächsischen und französischen) die Wissens- und Erkenntnislehre. Vereinfacht gesagt geht es darum, Dinge zu erklären. In ihrem Buch »Epistemische Ungerechtigkeit« erklärt Miranda Fricker, wie Wissen und Ungerechtigkeit zusammenhängen. In der abendländischen Philosophie wurde Ungerechtigkeit bislang nur als Abweichung der als Norm geltenden Gerechtigkeit untersucht. Frickers Ansatz ist insofern interessant, als dass sie Ungerechtigkeit als eigenständiges Phänomen behandelt.
Der Tenor des bereits 2007 unter dem Originaltitel »Epistemic Injustice. Power and the Ethics of Knowing« erschienenen und von der Fachwelt als »wegweisend« gelobten Werks lautet: Erst wenn etwas erkannt und benannt wird, kann sich daraus eine Moral ableiten. Ein Phänomen klar benennen kann jedoch nur, wer über das notwendige Wissen verfügt. Wer über dieses Wissen verfügt, der verfügt über Macht. Ein Beispiel: Lange gab es keine klare Bezeichnung für sexuelle Belästigung. Erst als sich die Machtverhältnisse verschoben und Frauen untereinander Wissen austauschten, wurde es ihnen möglich, ihre Erfahrungen zu benennen. Das verschaffte ihnen Zugang zu einem moralischen Raum, in dem sich nach und nach eine Macht entfaltet.
»Wo immer Macht am Werk ist, sollten wir bereit sein zu fragen, wer oder was jemanden kontrolliert und warum«, schreibt Fricker. Dadurch könne man Ungerechtigkeiten offenlegen, denen Menschen beispielsweise auf Grund ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe, sexuellen Identität oder Orientierung ausgesetzt sind.
Seit ihrer Promotion 1996 an der Oxford University befasst sich Fricker mit epistemischer Ungerechtigkeit sowie feministischer und politischer Philosophie. Beim Lesen des Buchs merkt man, dass es ihr wichtig ist, den Leserinnen und Lesern die Komplexität des Themas anhand von lebensnahen Beispielen zu verdeutlichen. So macht sie für Laien etwas sperrige Begriffe greifbar, zum Beispiel die »Zeugnisungerechtigkeit«: Angenommen, das Gutachtergremium einer Fachzeitschrift hat gegen eine bestimmte Forschungsmethode Vorbehalte. Reicht man nun Ergebnisse ein, die mittels dieser Methode erlangt wurden, könne es passieren, dass die Resultate nicht objektiv bewertet, sondern von vornherein als unglaubwürdig eingestuft werden. Der Person, die ihre Ergebnisse eingereicht habe, würde also gar nicht erst auf Augenhöhe begegnet.
Wer bereit ist, sich durch die etwas verschachtelten Gedankengänge durchzuarbeiten, wird mit hoch spannenden, herausfordernden Inhalten belohnt. Fricker lockt ihre Leserinnen und Leser gedanklich aus der Komfortzone und führt ihnen die Macht des Wissens eindrücklich vor Augen.
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