Buchkritik zu »Erdgeschichte. Spurensuche im Gestein«
Kambrium, Ordovizium, Silur – haben auch Sie die "Systeme" der Erdgeschichte auswendig lernen und aufsagen müssen, ohne viel damit zu verbinden? Der Mannheimer Geologieprofessor Peter Rothe erfüllt diese Begriffe buchstäblich mit Leben – und nicht nur mit Leben. Meere drangen immer wieder auf das Festland vor und zogen sich wieder zurück, mal sprühte die Erde Feuer in einem Ausmaß, das uns heute unvorstellbar erscheint, mal überzog sie sich in weiten Gebieten mit kilometerdickem Eis. Gebirge wurden aufgeschoben und wieder abgetragen. Und unentwegt wurden Kontinentalblöcke um die Erde verfrachtet und zu immer anderen Konstellationen zusammengepuzzelt. Rothes Erdgeschichte beginnt denn auch nicht erst mit dem Kambrium, mit dem Zeitabschnitt, in dem erstmals und auch ziemlich unvermittelt eine Vielfalt komplexer Lebewesen auftaucht. Da waren von den 4,6 Milliarden Jahren der gesamten Erdgeschichte bereits sieben Achtel vergangen. Diese lange Zeit war durchaus nicht ereignislos. Im Präkambrium entstand der größte Teil der kontinentalen Kruste, sammelte sich das Wasser der Ozeane; wurde die Atmosphäre mit Sauerstoff angereichert; bildeten sich Gesteine, die später nicht mehr entstehen konnten, darunter die größten Eisenerzlager; entwickelten sich erstaunlich früh – vor etwa 4 Milliarden Jahren – die ersten Lebewesen. Nachdem Rothe Vorlesungen über Erdgeschichte vor allem für Nebenfach-Studierende gehalten hat, zielt er mit diesem Buch auf einen breiteren Leserkreis. Folgerichtig stellt er dem Hauptteil ein paar Kapitel "Grundlagen" voran, beginnend mit dem "Lagerungsgesetz" und dem "Aktualitätsprinzip". Beide erscheinen uns heute trivial: dass Gesteine in der Reihenfolge, in der sie übereinander liegen, abgelagert wurden und dass sich geologisches Geschehen in der Vergangenheit kontinuierlich, ohne wundersame Kräfte und Sprünge vollzogen hat, so wie wir es in der Gegenwart beobachten können. Rothe stellt die wichtigsten Gruppen von Fossilien vor, erklärt eingehend, wie das Alter von Gesteinen bestimmt werden kann, und erläutert unter dem Begriff der Fazies, wie die Merkmale unterschiedlicher Gesteine die Bedingungen widerspiegeln, unter denen sie jeweils abgelagert worden sind. Ein schönes Beispiel: "Wenn man die Knochen toter Kamele in feinkörnigem Sandstein findet, dessen Schichtung so aussieht wie die heutiger Dünen, und wenn die Sandkörner zudem noch rötlich gefärbt sind, dann hat man schon eine ganze Reihe von Kriterien, aus denen sich die Bildungsbedingungen dieses Gesteins rekonstruieren lassen … Sanddünen werden vor allem da entstehen, wo nur geringe Vegetation den äolischen Sandtransport behindert … Die rote Farbe der Sandkörner ist auf dünne Hämatithäutchen zurückzuführen, die die Quarzkörner umschließen, und Hämatit (Fe2O3) bildet sich unter den Bedingungen der Erdoberfläche nur in warmem Klima … " Dann geht es Kapitel für Kapitel, vom Präkambrium bis zum Quartär, durch die Erdgeschichte. Natürlich ist es unmöglich, auf jeweils 6 bis 18 Seiten zu berichten, was sich im Laufe von vielleicht 50 Millionen Jahren rund um die Erde getan hat. Rothe arbeitet die charakteristischen Züge der Zeitabschnitte gut heraus. Bei den angeführten Beispielen konzentriert er sich weitgehend auf Mittel- und Westeuropa. Dennoch dürfte in der vom Autor angestrebten Informationsdichte manches das Interesse fachferner Leser überfordern. Das ist nicht so tragisch: Man blättert ein wenig weiter und gewinnt wieder Grund. Hilfreich ist dabei der strenge Aufbau der Kapitel. Die Zeitabschnitte sind jeweils gegliedert in "Begriff und Abgrenzung", "Flora und Fauna", "Fazies", "Stratigraphie" und "Zusammenfassung", mitunter ergänzt durch spezielle Betrachtungen, etwa über "Die Variskische Gebirgsbildung", "Die Besonderheiten der Kreide-Tertiär-Grenze" oder "Die Entstehung der quartären Eiszeiten". Im Anhang folgen für Leute, die es ganz genau wissen wollen, ausführliche stratigraphische Tabellen zu den einzelnen Systemen, ein umfangreiches Literaturverzeichnis und ein Register. Die schön gezeichneten Fossilientafeln sind einem über siebzig Jahre alten Lehrbuch entnommen – eine gute Idee. Die den einzelnen Zeitabschnitten jeweils vorangestellten Kärtchen über die Verteilung der Festländer – eigentlich auch eine gute Idee – geben zwar den Wissensstand von 1981 wieder, stimmen jedoch, wie Rothe einräumt, "nur in Grundzügen mit neueren Daten überein". Wenn der Autor darauf verweist, dass die neueren Daten im Internet abrufbar seien, aber nicht einmal Adressen nennt, hat er offensichtlich den erhofften breiteren Leserkreis aus dem Auge verloren. Der Zugang zu den mit sichtlich viel Mühe ausgearbeiteten stratigraphischen Tabellen wird unnötig erschwert, indem die Erklärungen der zahlreichen Zeichen 190 Seiten weiter vorn im Vorwort versteckt sind. Dabei wäre direkt bei den Tabellen genügend Platz gewesen. Trotz dieser Kritikpunkte lautet das Fazit: empfehlenswert.
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