Dreiecke zu Parallelogrammen zu Rechtecken zu Quadraten
Zu den zentralen Ergebnissen der klassischen euklidischen Geometrie zählt, dass man jede von geraden Linien begrenzte Figur in ein flächengleiches Quadrat verwandeln kann. Man zerlege das Polygon zunächst durch geeignete Diagonalen in Dreiecke; mache aus jedem Dreieck ein Parallelogramm, indem man es entlang einer Mittelparallele entzweischneidet und das kleine Dreieck um 180 Grad gedreht dem größeren Trapez anfügt; mache ferner aus dem Parallelogramm ein Rechteck, indem man zum Beispiel links ein kleines Dreieck abschneidet und rechts anfügt; und schließlich aus dem Rechteck ein Quadrat, indem man der längeren Seite einen wohlbemessenen Streifen abschneidet und um 90 Grad gedreht an die kürzere Seite ansetzt. Vielleicht muss man vor dem letzten Schritt ein sehr lang gestrecktes Rechteck durch Zerschneiden in gleiche Teile und Aufeinanderstapeln quadratähnlicher machen.
Das alles funktioniert nach den gestrengen Regeln des klassischen griechischen Reinheitsgebots: Man findet alle Schnittlinien allein mit Zirkel und Lineal. Theoretisch ein schönes Ergebnis; aber wer diese Quadratur mit echtem Sperrholz praktizieren will, hat viel zu sägen und muss sein Quadrat am Ende aus einem ziemlich unansehnlichen Haufen Kleinholz zusammenstückeln. Da erwacht der Ehrgeiz, es eleganter und vor allem mit weniger Teilen zu machen. Ein gleichseitiges Dreieck in ein Quadrat verwandeln? Geht mit vier Teilen, die allerdings raffiniert zugeschnitten sein wollen.
Parallel verschoben und gelenkig verbunden
Noch schöner sind Zerlegungen in Teile, die man nur durch Parallelverschiebung – ohne Drehung – in die eine wie die andere Form bringt (»translational dissections«); oder solche, bei denen man die Teile an den Ecken zu einer gelenkigen Kette verbindet, die so herum zusammengefaltet sich zu der einen Figur und andersherum zu der anderen fügt (»hingeable dissections«).
Was es für diese »schönen« Zerlegungen nicht gibt, ist ein Verfahren wie das oben genannte, das garantiert immer funktioniert. Es existiert eine Sammlung von Rezepten; aber herauszufinden, ob und wie eines von ihnen im Einzelfall anzuwenden ist, erfordert gelegentlich beträchtliche Fantasie und den Einsatz längst vergessener Sätze aus der Schulgeometrie.
Nachdem der britisch-australische Amateurmathematiker Harry Lindgren (1912–1992) mit seinem Buch »Geometric Dissections« (1964) das Thema erstmals mit einer gewissen Vollständigkeit abgehandelt hatte, dauerte es mehr als 30 Jahre, bis sich Greg N. Frederickson, inzwischen emeritierter Professor für Computer Science an der Purdue University, mit »Dissections: Plane and Fancy« (1997) als Platzhirsch der Szene etablierte. Ausgerechnet Frederickson ist es jetzt gelungen, mit Geduld und einer guten Portion Glück das verloren geglaubte Werk eines dritten Großmeisters ausfindig zu machen, eines gewissen Ernest Irving Freese.
Abenteurer am Zeichenbrett
Dass Freese (1886–1957) der Welt eine Fülle neuer Zerlegungen schenken würde, hätte zu seinen aktiven Zeiten sicherlich niemand vermutet. Ja, er war technischer Zeichner, und zwar einer der besten, sonst hätte ihn zweifellos keiner der Arbeitgeber, die er Hals über Kopf im Stich gelassen hatte, später mit offenen Armen wieder aufgenommen. Aber der Sinn stand ihm vorrangig nach Abenteuern. Mehrfach reiste er um die Welt, während er sich zwischendurch immer wieder einmal zum Zeichnen verdingte. Erst auf seine alten Tage wendete er sich der geometrischen Zerlegerei zu. Kurz vor seinem Tod vollendete er 200 ganzseitige Zeichnungen, die von großer Fantasie, sorgfältiger systematischer Arbeit und ungeheurer Geduld zeugen.
Freese fand keinen Verleger dafür, seine Witwe auch nicht. Erst als sich 60 Jahre später sein Sohn zum Sterben ins Hospiz begab, räumte dessen Cousine auf, fand den jahrzehntealten Brief, in dem Frederickson nach dem Verbleib der Zeichnungen fragte, und dann auch den verstaubten Schatz selbst. In diesem Buch reproduziert Frederickson die 200 Zeichnungen und versieht sie mit umfangreichen Kommentaren nebst einer angedeuteten Systematik für das Gebiet, das sich sozusagen von Natur aus gegen eine Systematisierung sperrt. Damit gewinnt der Leser über Freeses Werk hinaus einen hervorragenden Überblick über die Flächenzerlegung – und lernt interessante und unkonventionelle Anwendungen der euklidischen Geometrie kennen.
Ein bisschen komisch wirkt es, wenn Frederickson einerseits an zahlreichen Stellen die Priorität Freeses neidlos anerkennt – und andererseits an nicht minder zahlreichen Stellen demonstriert, dass Freese für diese oder jene Zerlegung mit weniger Teilen ausgekommen wäre, hätte er nur Fredericksons Techniken genutzt. Aber man soll ja bekanntlich das eigene Licht nicht unter den Scheffel stellen.
Das Gebiet kann auch nach Freese und Frederickson längst nicht als abgeschlossen gelten. Ein Brite namens Gavin Theobald lässt im vergleichsweise zarten Alter von 57 Jahren seine Fantasie spielen und brachte Frederickson in – offen eingestandene – Verlegenheit, indem er kurz vor Drucklegung dieses Buchs noch Verbesserungen fand, die der Autor nicht ignorieren konnte.
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