Geschichte des Eros
Packend und wissenschaftlich fundiert befasst sich dieses Buch mit mehr als 2000 Jahren europäischer Sexualkultur. Die über 500 eng bedruckten Seiten – davon rund 90 für Quellenangaben nebst Personen- und Sachregister – sind auf den ersten Blick eine abschreckende Bleiwüste. Bei näherem Hinsehen jedoch entpuppen sie sich als Ansammlung zahlloser Wissensoasen ohne Durststrecke.
Der Autor Franz X. Eder ist Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte der Familie, aber auch die des Körpers und der Sexualität. Dieses Buch bildet den ersten Teil einer zweibändig angelegten Darstellung und hat die europäische Sexualgeschichte von der griechischen Antike bis in die frühe Neuzeit zum Thema. Im Folgeband wird es um die Entstehung und Durchsetzung der »Sexualität« im modernen Wortsinn ab dem 17. Jahrhundert bis hin zur Gegenwart gehen.
Schwierige Quellenlage
Als Historiker, schreibt Eder, interessiere ihn weniger die individuelle sexuelle Begierde, sondern vielmehr die Frage nach dem soziokulturellen Rahmen des Sexuellen. Dieser war offenbar erstaunlichen geschichtlichen Wandlungen unterworfen. Dem Autor zufolge setzte die allmähliche Trennung von Sexualität und Fortpflanzung erst während des 19. Jahrhunderts ein. In den Epochen davor sei Sexualität oft in den bedrückenden Widerspruch zwischen öffentlich verordneter Moral und gelebter Praxis geraten. Eders Buch zeigt auf, dass dies insbesondere für die christlich geprägten Gesellschaften der europäischen Vormoderne gilt.
Doch welche sexuellen Beziehungen gab es einst vor, in und außerhalb der Ehe? Was davon war gesellschaftlich erwünscht, was geächtet? Welche Möglichkeiten gleichgeschlechtlichen und queeren Begehrens und Handelns gab es? Wie ging man mit Prostitution und Pornografie um? Und welche Probleme warfen Verhütung und Geschlechtskrankheiten auf? Seine Quellen, so Eders methodenkritische Vorbemerkung, spiegelten meist die Perspektive erfolgreicher und gebildeter Oberschicht-Angehöriger wider. Die überlieferten Texte sind in der Regel also Zeugnisse einer männlichen und in vielen Fällen auch »offiziell gebotenen« Sichtweise.
Eder untersucht zunächst die Politisierung und Sozialisierung des Eros in der griechisch-römischen Antike. Kapitelüberschriften wie »Regentschaft des Phallus« oder »Koitus als Bürgerpflicht« geben dabei bereits erste Hinweise auf die Unterschiede zwischen griechischer und römischer Kultur. Das Zeugen ehelicher Kinder etwa habe zwar auch in Griechenland eine hohe Bedeutung gehabt, doch erst in Rom sei die Ehe zur Staatsraison avanciert. Für das sich anschließende Christentum sei es nur noch ein kleiner Schritt gewesen, die Ehe zum Sakrament zu erklären – zu einer von Gott gestifteten und damit heiligen Institution.
Wie skeptisch sowohl Juden- als auch frühes Christentum mit der Sexualität umgingen, ist Gegenstand des Kapitels »Wie der 'böse' Stachel in das Fleisch kam«. Es schließen sich die beiden mit Abstand umfangreichsten Kapitel an, welche die ambivalente Sexualwelt des Mittelalters sowie die Regulierung und Disziplinierung von Sexualität während und nach der Reformation betrachten. In Überschriften wie »Schamlose Augen- und Ohrenlust«, »Die Sünde wider die Natur« oder »Abscheuliche Sünder auf den Scheiterhaufen« deutet der Autor bereits an, dass die Fleischeslust im Mittelalter nicht nur philosophisch einen schweren Stand gehabt habe, sondern bei sexueller Wollust auch gerichtlich jederzeit mit einem düsteren Nachspiel zu rechnen gewesen sei.
Körper-Seele-Dualität
Das Christentum stellte die spirituelle über die körperliche Liebe – ausgehend von dem Gedanken, das Fleisch vergehe, die Seele aber sei unsterblich. Diese Dualität von Seele und Körper wurde in der mittelalterlich-reformatorischen Sündenlehre mit dem Gegensatz von Gut und Böse verbunden. Körperliches Begehren ging somit zumindest tendenziell stets mit dem Bösen einher.
Der weit verbreiteten Vorstellung jedoch, erst mit dem Christentum sei sexuelle Schuld und Scham und ebenso auch Angst und Unterdrückung in die europäische Sexualgeschichte eingewandert, widerspricht Eder energisch: Auch Griechen und Römer – allen voran die Stoiker und Pythagoreer – hätten sich den Kopf darüber zerbrochen, wie sich der zur 'Übermächtigung' neigende Sexualtrieb zivilisieren lasse. Schon für Platon (4. Jahrhundert vor Chr.) habe der Eros noch ein 'höheres' Ziel als die Kinderzeugung gehabt – nämlich, für eine »ästhetische und ethische Lebensführung« zu sorgen.
Im Gegensatz zu heute, so Eder, sei das Sexualleben in früheren europäischen Gesellschaften »nicht primär als ein privates oder persönliches Verhältnis zweier oder mehrerer Personen« verstanden worden. Sexualität sei vielmehr als »ein elementares Regulativ der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Ordnung« begriffen worden. Dies habe auf einer geschlechtertypischen Polarisierung beruht: Männer seien demnach durch die ratio (Verstand und Vernunft) bestimmt, Frauen hingegen durch die sensualitas (Gefühl und Triebhaftigkeit). Männer seien aktiv handelnde »Subjekte«, Frauen hingegen von ihrer Wollust getriebene »Objekte« der Begierde. Sie seinen zwar eher passiv, aber dennoch die eigentlichen Verführerinnen.
Diese epochenübergreifende Sichtweise eröffnete Männern die größeren sexuellen Handlungsspielräume. Insbesondere dann, wenn Abhängigkeiten existierten wie etwa zwischen Ehemann und Ehefrau, Arbeitgebern und Gesinde, Besitzern und Sklaven, Siegern und Besiegten. Macht und Herrschaft, schreibt Eder, seien eine zentrale Kategorie in sexuellen Beziehungen. Und sexuelle sowie sexualisierte Gewalt habe immer schon zu den strukturellen Eigenschaften von Gesellschaften gehört, in denen Macht und Herrschaft ungleich verteilt sind. Mit Nachdruck weist der Autor darauf hin, dass die Geschlechter in der Realität jedoch oft eher ambivalent oder gar konträr zu den polaren Rollenbildern agierten.
Franz X. Eder hat ein beeindruckendes Werk über gesellschaftliche Ideale und Tabus und ihren historischen Wandel hinsichtlich der Sexualität vorgelegt. Nach dieser Lektüre wird niemand mehr Zweifel hegen, dass Menschen abgründige Wesen sind: Weder das platonische Ideal noch die Ansprüche christlicher Moraltheologie wurden offenbar jemals in der Praxis auch nur annähernd eingelöst. Eine packende, oft verblüffende und zuweilen auch verstörende Lektüre.
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