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Werden, wer man noch sein kann

Je länger die Vita, auf die man zurückblickt, umso deutlicher zeichnet sich ab, dass das Leben einmal endet und die Zeit bis dahin überschaubar wird. Was noch voraus liegt, lässt sich immer besser an dem messen, was man bereits hinter sich hat.

Dieser Essay lädt dazu ein, sich mit den Möglichkeiten der Restbiografie zu befassen. Ob in der Mitte des Lebens oder darüber hinaus: Es geht um eine Verortung. Wer bin ich bisher gewesen? Wer kann ich noch werden? Und wie werde ich, wer ich sein kann, wenn wichtige Entscheidungen in meinem Leben schon gefallen sind?

Es ist nicht populär, mit dem eigenen Ende zu rechnen, und aufbauend auch nicht. Aber ein gutes Leben gelingt wohl eher, wenn man sich auf schwindende Optionen und Abschiede vorbereitet und einen Standpunkt findet, aktiv damit umzugehen. Es mag verlocken, in Glauben, Ideologie oder Esoterik zu flüchten – in die "seichteren Gewässer von Ontologien", wie Rolf Arnold schreibt, der als Pädagogikprofessor an der TU Kaiserslautern forscht. Ontologie sei "verbunden mit einem Sprung aus der Vernunft, der alles dementiert, was uns überhaupt erst zu der Frage geführt hat, um deren Klärung es der restbiografischen Reflexion geht."

Man muss nicht mehr für alles zur Verfügung stehen

Der Autor erhebt nicht den Anspruch, letzte Fragen zu beantworten. Aber er regt dazu an, die verbleibende Biografie bewusster zu entwerfen. Ein mögliches Mittel hierfür sind die "Drei Siebe des Sokrates", anhand derer man entscheiden kann, ob man sich einer Sache (noch) annehmen möchte oder nicht. Ist es wahr? Ist es gut? Ist es notwendig? Wenn es keines von diesen ist, warum belasten wir uns damit?

Mit fortschreitendem Alter schwinden die Optionen. Türen, die bisher offen standen, schließen sich; Wegeinbiegungen, die man hätte nehmen können, ziehen vorbei. Der Umgang damit, so Arnold, "ist die Kernfrage der restbiografischen Reflexion". Schwindende Optionen könnten nicht genutzt, sie müssten losgelassen werden. "An ihre Stelle sollten neue Bilder eines gelingenden Lebens treten, für die unserer Aufbruchgesellschaft allerdings die Vorlagen fehlen." Alternde Menschen verfügten oft weder über ein Modell noch über geeignetes Anschauungsmaterial für die eigene verbleibende Vita.

Dem Verlust der Optionen wohnt auch Schöpferisches inne, wie der Autor zeigt. Unsterblich könnten wir uns endlos neu erfinden oder ewig wiederholen, womit alle Festlegungen und Unwiederbringlichkeiten entgleiten würden. Es wäre dann nicht möglich, sich zu definieren. Schon der Philosoph Michel Eyquem de Montaigne (1533-1592) entzog der Illusion ewiger Jugend den Boden, indem er den Menschen zurief: "Dachtet ihr denn, ihr würdet nie da ankommen, worauf ihr beständig zugingt?" So gesehen, ist die Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit nur um den Preis des Todes zu haben.

Wandern, ohne zu stöhnen

Am Ende stellt Arnold vier Möglichkeiten für die Restbiografie vor: Spuren verwischen, eine achtsam beobachtende Position einnehmen, sich um das Lebendige bemühen, in den Unterschied gehen. Übungen und konfrontierende Fragen, die auf die verschiedenen Kapitel verteilt sind, sollen helfen, hierzu eine Haltung einzunehmen ("Kann ich lernen zu wandern, ohne zu stöhnen?").

"Es ist später, als du denkst" ist ein kluges Buch. Leider enthält es ausgedehnte Passagen, in denen philosophisch wenig beschlagene Leser dem Autor kaum folgen können. Er reflektiert hier Denker wie Hegel, Bateson, Foucault und Fromm, stellt Betrachtungen über die galaktische Einsamkeit an, sinniert über Baum-Wald-Metaphern und versucht sich an sprachphilosophischen und kognitionstheoretischen Klärungen. Philosophie-Laien bleiben dabei auf der Strecke; sie müssen sich durch ein langes Tal kämpfen, bevor sie im letzten Kapitel wieder Anschluss bekommen.

"Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält", schrieb Max Frisch. Diese Geschichte zu einer gelungenen Lebensbewegung zu gestalten, dazu bestärkt das Werk.

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