Buchkritik zu »Es war die Kühnheit meiner Gedanken«
Der Norweger Sophus Lie (1844-1899) gilt als einer der brilliantesten mathematischen Köpfe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, einer Epoche, in der sich mathematische Sichtweisen entscheidend veränderten und die Grundlagen für heute dominierende moderne Konzepte gelegt wurden. Lie selbst legte mit seiner Theorie der "kontinuierlichen Transformationsgruppen" das Fundament für ein ganzes Wissensgebiet, das sich erst um 1930 als eigenständige mathematische Teildisziplin herauskristallisierte. Heute ist es als Theorie der Lie-Gruppen und Lie-Algebren eine tragende Säule der modernen Mathematik und gewinnt zunehmende Bedeutung in der modernen theoretischen Physik.
Gleichzeitig war Lie einer der widersprüchlichsten und schillerndsten Persönlichkeiten seiner Zeit. Noch heute kursieren über ihn zahlreiche skurrile Geschichten und Anekdoten, durch welche die tragischen Aspekte seines Lebens häufig in Vergessenheit geraten.
Der Pfarrerssohn zeigte schon früh einen ausgeprägten Ehrgeiz, ungewöhnliche Körperkräfte und einen ebensolchen Humor. Nach sehr gutem Schul-abschluss und einem damals üblichen allgemein gehaltenen Studium der Naturwissenschaften entdeckte er seine Berufung zum Mathematiker erst relativ spät – mit 24 Jahren – und autodidaktisch. In den Jahren 1869/70 fand er den Anschluss an die internationale Forschung auf Reisen nach Berlin und Paris; dort lernte er unter anderem Felix Klein, einen der führenden deutschen Mathematiker des 19. Jahrhunderts, kennen und begann mit ihm eine über Jahre dauernde fruchtbare Zusammenarbeit.
In diesen Jahren, die in Norwegen als eine Zeit des kulturellen und politischen Umbruchs gelten, machte Lie auch durch ausgeprägtes soziales und politisches Engagement von sich reden. Führende Intellektuelle sorgten letztendlich dafür, dass der mittlerweile international anerkannte Lie auch in seinem Heimatland eine angemessene Unterstützung erfuhr. Das norwegische Parlament beschloss 1872, eine außerordentliche Professur für ihn einzurichten. Von 1886 bis 1898 lebte Lie mit seiner Familie in Leipzig als Mathematikprofessor in der Nachfolge Felix Kleins, in engem Kontakt mit den damaligen deutschen mathematischen Zentren Berlin und Göttingen und deren Protagonisten.
Im Jahr 1889 erlitt Lie einen schweren Nervenzusammenbruch, dessen Hintergründe kaum zu einem klaren Gesamtbild zusammenzufügen sind. Belegt sind zeitgleich auftretende familiäre Probleme, aber auch beginnende Streitigkeiten mit Mathematikerkollegen. Lie verbrachte sieben Monate in einer Nervenklinik und wurde danach als nicht geheilt entlassen. Er fand zwar im Wesentlichen wieder zu seiner mathematischen Arbeitskraft, doch die Beziehungen zu seinen Kollegen und Freunden wurden durch Lies beständige Vorwürfe, man betröge ihn um seinen Ruhm und stehle seine Ideen, stark belastet. Letztendlich führte dies auch zum Bruch mit Felix Klein, der dennoch nie die Verdienste Lies in Frage stellte. Im Jahre 1898 kehrte Lie nach Norwegen zurück, wo er allerdings nur noch für kurze Zeit seiner Arbeit als Hochschullehrer nachgehen konnte. Er starb im Februar 1899 an der damals nicht heilbaren perniziösen Anämie.
Ein reichhaltiges Leben mit dramatischen Ereignissen, eine vielschichtige Persönlichkeit, zahlreiche und zugängliche Quellen – das ist Stoff genug für Biografien unterschiedlichen Charakters, von mathematisch über geistesgeschichtlich bis spannend-unterhaltsam. Leider bietet der Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und studierte Mathematiker Arild Stubhaug nichts von alledem.
Mehr als 400 Seiten Text, fast 100 Seiten Anhang aus Anmerkungsapparat, Chronologie und akkurater Bibliografie mit Hinweis auf eine Reihe ungedruckter Quellen sowie ein umfangreicher und interessanter Bildteil sind auf den ersten Blick sehr eindrucksvoll. Aber in der Qualität bleibt der Text hinter dieser Ausstattung zurück. Trotz zahlreicher Fakten über Lies Vorfahren, seine weitläufige Familie, seinen Lebensweg und die Kulturgeschichte Norwegens, ergänzt durch ausführliche Kurzbiografien seiner Zeitgenossen, lernt man über Lie als Mathematiker nicht viel mehr, als dass er bedeutend war und mit zahlreichen Auszeichnungen bedacht wurde. Stubhaug versucht gar nicht erst einen Eindruck davon zu geben, worin "die Kühnheit seiner Gedanken" eigentlich bestand und welche Rolle sie in seiner so aufregenden Zeit spielten.
Auch der Mensch Lie bleibt seltsam konturlos. Die zahlreichen, bisweilen etwas lieblos aneinander gereihten Geschichten lassen die widersprüchliche und für seine Umwelt manchmal schwer zu verstehende Persönlichkeit Lies nur erahnen. Die psychische Instabilität, sein übermäßiges Streben nach Anerkennung wird kaum in Beziehung gesetzt zu den Stationen seiner wissenschaftlichen Arbeit. Die Umstände, die zu seinem Zusammenbruch führten, und die zerstörerischen Missverständnisse, die seine Beziehungen zu vielen Fachkollegen in dieser Zeit und danach prägten, werden keiner kritischen Analyse unterzogen.
Für ein informatives Sachbuch ist das Buch viel zu umfangreich, für eine literarische Biografie fehlt ihm der dramatische Aufbau. Es bleibt ein Denkmal für einen norwegischen Nationalhelden, der Lie ja unbestritten ist. Doch auch Denkmäler können Kunstwerke sein. Hier wurde eine Chance vertan, das reichhaltige und aufwendig recherchierte Material zu einem solchen Kunstwerk zusammenzufügen und dem Menschen und Mathematiker Lie dadurch gerecht zu werden.
Gleichzeitig war Lie einer der widersprüchlichsten und schillerndsten Persönlichkeiten seiner Zeit. Noch heute kursieren über ihn zahlreiche skurrile Geschichten und Anekdoten, durch welche die tragischen Aspekte seines Lebens häufig in Vergessenheit geraten.
Der Pfarrerssohn zeigte schon früh einen ausgeprägten Ehrgeiz, ungewöhnliche Körperkräfte und einen ebensolchen Humor. Nach sehr gutem Schul-abschluss und einem damals üblichen allgemein gehaltenen Studium der Naturwissenschaften entdeckte er seine Berufung zum Mathematiker erst relativ spät – mit 24 Jahren – und autodidaktisch. In den Jahren 1869/70 fand er den Anschluss an die internationale Forschung auf Reisen nach Berlin und Paris; dort lernte er unter anderem Felix Klein, einen der führenden deutschen Mathematiker des 19. Jahrhunderts, kennen und begann mit ihm eine über Jahre dauernde fruchtbare Zusammenarbeit.
In diesen Jahren, die in Norwegen als eine Zeit des kulturellen und politischen Umbruchs gelten, machte Lie auch durch ausgeprägtes soziales und politisches Engagement von sich reden. Führende Intellektuelle sorgten letztendlich dafür, dass der mittlerweile international anerkannte Lie auch in seinem Heimatland eine angemessene Unterstützung erfuhr. Das norwegische Parlament beschloss 1872, eine außerordentliche Professur für ihn einzurichten. Von 1886 bis 1898 lebte Lie mit seiner Familie in Leipzig als Mathematikprofessor in der Nachfolge Felix Kleins, in engem Kontakt mit den damaligen deutschen mathematischen Zentren Berlin und Göttingen und deren Protagonisten.
Im Jahr 1889 erlitt Lie einen schweren Nervenzusammenbruch, dessen Hintergründe kaum zu einem klaren Gesamtbild zusammenzufügen sind. Belegt sind zeitgleich auftretende familiäre Probleme, aber auch beginnende Streitigkeiten mit Mathematikerkollegen. Lie verbrachte sieben Monate in einer Nervenklinik und wurde danach als nicht geheilt entlassen. Er fand zwar im Wesentlichen wieder zu seiner mathematischen Arbeitskraft, doch die Beziehungen zu seinen Kollegen und Freunden wurden durch Lies beständige Vorwürfe, man betröge ihn um seinen Ruhm und stehle seine Ideen, stark belastet. Letztendlich führte dies auch zum Bruch mit Felix Klein, der dennoch nie die Verdienste Lies in Frage stellte. Im Jahre 1898 kehrte Lie nach Norwegen zurück, wo er allerdings nur noch für kurze Zeit seiner Arbeit als Hochschullehrer nachgehen konnte. Er starb im Februar 1899 an der damals nicht heilbaren perniziösen Anämie.
Ein reichhaltiges Leben mit dramatischen Ereignissen, eine vielschichtige Persönlichkeit, zahlreiche und zugängliche Quellen – das ist Stoff genug für Biografien unterschiedlichen Charakters, von mathematisch über geistesgeschichtlich bis spannend-unterhaltsam. Leider bietet der Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und studierte Mathematiker Arild Stubhaug nichts von alledem.
Mehr als 400 Seiten Text, fast 100 Seiten Anhang aus Anmerkungsapparat, Chronologie und akkurater Bibliografie mit Hinweis auf eine Reihe ungedruckter Quellen sowie ein umfangreicher und interessanter Bildteil sind auf den ersten Blick sehr eindrucksvoll. Aber in der Qualität bleibt der Text hinter dieser Ausstattung zurück. Trotz zahlreicher Fakten über Lies Vorfahren, seine weitläufige Familie, seinen Lebensweg und die Kulturgeschichte Norwegens, ergänzt durch ausführliche Kurzbiografien seiner Zeitgenossen, lernt man über Lie als Mathematiker nicht viel mehr, als dass er bedeutend war und mit zahlreichen Auszeichnungen bedacht wurde. Stubhaug versucht gar nicht erst einen Eindruck davon zu geben, worin "die Kühnheit seiner Gedanken" eigentlich bestand und welche Rolle sie in seiner so aufregenden Zeit spielten.
Auch der Mensch Lie bleibt seltsam konturlos. Die zahlreichen, bisweilen etwas lieblos aneinander gereihten Geschichten lassen die widersprüchliche und für seine Umwelt manchmal schwer zu verstehende Persönlichkeit Lies nur erahnen. Die psychische Instabilität, sein übermäßiges Streben nach Anerkennung wird kaum in Beziehung gesetzt zu den Stationen seiner wissenschaftlichen Arbeit. Die Umstände, die zu seinem Zusammenbruch führten, und die zerstörerischen Missverständnisse, die seine Beziehungen zu vielen Fachkollegen in dieser Zeit und danach prägten, werden keiner kritischen Analyse unterzogen.
Für ein informatives Sachbuch ist das Buch viel zu umfangreich, für eine literarische Biografie fehlt ihm der dramatische Aufbau. Es bleibt ein Denkmal für einen norwegischen Nationalhelden, der Lie ja unbestritten ist. Doch auch Denkmäler können Kunstwerke sein. Hier wurde eine Chance vertan, das reichhaltige und aufwendig recherchierte Material zu einem solchen Kunstwerk zusammenzufügen und dem Menschen und Mathematiker Lie dadurch gerecht zu werden.
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