Was Tiere essen – und warum
Seit gut 30 Jahren arbeiten die beiden Insektenbiologen (wie sie sich selbst nennen) David Raubenheimer und Stephen J. Simpson schon zusammen. In den ersten zwei Jahrzehnten studierten sie Insekten, »um eines der größten Rätsel in der Natur zu lösen: Woher wissen Lebewesen, was sie essen sollen?« Und wie viel? Warum gibt es keine übergewichtigen Tiere? Wer diese Fragen beantwortet, lernt etwas Nützliches fürs Leben – und die Ernährung des Menschen. Die Erkenntnisse aus ihrer Forschung fassen die Autoren im letzten Kapitel zusammen: »Die Umsetzung der Lehren in die Praxis«. Darin geben sie Tipps für eine »gesunde und genussvolle Ernährung«.
Evolutionsmechanismen hinter Essgewohnheiten
In den 13 Kapiteln davor beschreiben Raubenheimer und Simpson ihre Untersuchungen und Ergebnisse zum Ernährungsverhalten verschiedener Tiere und des Menschen – nach eigenen Zählungen analysierten sie mehr als 50 Arten. Vor allem interessierten sie dabei die Evolutionsmechanismen hinter den Essgewohnheiten. Die zwei Wissenschaftler forschen aktuell in Australien: Der in Kapstadt geborene David Raubenheimer ist Professor für Ernährungsökologie an der University of Sydney, während der gebürtige Australier Stephen J. Simpson akademischer Direktor des Charles Perkins Centre ist, eines multidisziplinären Forschungszentrums zur Verbesserung der globalen Gesundheit, und ebenfalls an der University of Sydney forscht. Ihre Zusammenarbeit begann allerdings 1991 an der Oxford University, wo sie mit Heuschrecken im Labor experimentierten und die Insekten in der Natur von Utah beobachteten. Dabei fanden die Biologen heraus, dass die Tiere sowohl Verlangen – also Appetit – auf Kohlenhydrate als auch auf Eiweiß haben, weshalb Heuschrecken in bestimmten Situationen ihre Artgenossen fressen. War die im Labor verabreichte Nahrung unausgewogen bezüglich dieser beiden Nähstoffe, bevorzugten die Tiere Eiweiß (Protein).
Die Autoren stellten in weiteren Untersuchungen fest, dass viele Tierarten separate Appetite auf die Makronährstoffe Eiweiß, Kohlenhydrate und Fette entwickelt haben, aber auch auf die beiden essenziellen Mikronährstoffe Natrium(chlorid) und Kalzium. Auch der Mensch kann diese fünf Nährstoffe aus Nahrungsmitteln herausschmecken. »Unsere Appetite haben sich so entwickelt, dass wir uns auf bestimmte Geschmacksrichtungen fokussieren, und bringen uns dazu, nur die Dinge zu essen, die wir zum Überleben brauchen.« So kann man im Idealfall eine ausgewogene Menge an Nährstoffen aufnehmen, was Experten als Nährstoffausgleich bezeichnen. Der Leser kann die Forschungsarbeit der beiden Wissenschaftler und ihrer Kollegen im Lauf der Jahre verfolgen, denn sie beschreiben genau, wie sie durch ihre Experimente zwar Antworten fanden, aber gleichzeitig immer wieder neue Fragen auftauchen, die sie mit neuen Versuchen beantworten möchten. So stellten sie fest, dass viele Tierarten ihre Mehrfachappetite für eine ausgewogene Ernährung nutzen, und schlossen daraus: »Nährstoffausgleich ist artenübergreifend, weit verbreitet und keine Ausnahme.«
Wie Raubenheimer und Simpson erkannten, setzt sich bei vielen Arten bei einem unausgewogenem Nahrungsangebot der Appetit auf Eiweiß durch – wie bei den eingangs beschriebenen Heuschrecken-Studien. Erste Erkenntnisse deuten darauf hin, dass es auch bei Menschen so ist: »In einer eiweißarmen, aber energiereichen Welt essen wir zu viele Kohlenhydrate und Fette, um unser Eiweißziel zu erreichen, und riskieren so, fettleibig zu werden. Ist die Ernährung eiweißreich, nehmen wir zu wenig Kohlenhydrate und Fette zu uns, um zu vermeiden, dass wir unser Eiweißziel überschreiten.«
Leider ist die einfache Schlussfolgerung für die Lösung des menschlichen Adipositas-Problems allerdings nicht, einfach den Eiweißanteil in der Ernährung zu erhöhen. Weitere Studien mit verschiedenen Tierarten – und Erfahrungen auf einer japanischen Insel mit besonders vielen Hundertjährigen – zeigten nämlich: Eine eiweißreiche Kost birgt auch Nachteile. Zudem kann eine eiweißarme, kohlenhydratreiche Ernährung das Leben verlängern. Die Autoren erklären die verschiedenen Gründe dafür. Dabei gehen sie auf unterschiedliche Nährstoffbedürfnisse in unterschiedlichen Lebensphasen ein, auf Veränderungen der Nahrungsumgebungen. Zu guter Letzt kommen sie auf industriell hergestellte Lebensmittel zu sprechen und ihren Einfluss auf die menschliche Gesundheit.
»Ultrahochverarbeitete Lebensmittel sind in der Regel eiweiß-, ballaststoff- und mikronährstoffarm und reich an Fetten, ungesunden Kohlenhydraten und zusätzlichen Geschmacksverstärkern – genau jener Cocktail, den auch unsere Tierstudie als Ursache für Überkonsum und schlechte Gesundheit ergab.« Die beiden Biologen beschreiben Strategien der Lebensmittelindustrie und den Teufelskreis aus Insulinresistenz, höherem Eiweißziel und verschiedenen Krankheiten – und kommen im letzten Kapitel schließlich zur Umsetzung ihrer Forschungsarbeit in die Praxis.
Dort erhält der Leser 15 konkrete Tipps: angefangen mit der Abschätzung des persönlichen Eiweißziels in der Ernährung in drei Schritten bis zu dem Hören auf Appetite. Zudem erklären die Forscher, was man bei welchem Appetit am besten isst und raten darüber hinaus zu gutem und ausreichendem Schlaf, körperlicher Aktivität im Freien und dem Kochenlernen. Der interessierte Leser findet am Ende ein ausführliches Quellenverzeichnis mit den zu Grunde liegenden wissenschaftlichen Studien.
Das Buch »Essinstinkt« liefert überraschende Einblicke in die Ernährungsweisen vieler Tierarten, aber auch konkrete Tipps für die eigene gesunde Ernährung. Es ist verständlich geschrieben und kurzweilig zu lesen. Das Buch eignet sich zudem für Leser, die sich dafür interessieren, wie Wissenschaftler zu ihren Erkenntnissen gelangen.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.