Globalisiertes Mittelalter
Fränkische Broschen aus byzantinischem Gold und ägyptische Pilgerfläschchen in Großbritannien: Im frühen Mittelalter war die bekannte Welt bereits erstaunlich gut vernetzt. Ein internationales Forschungsprojekt hat nun erkundet, wie sich solche Verknüpfungen am Übergang von der Antike zum Mittelalter herausbildeten. Hierfür brachten Wissenschaftler diverse Gegenstände aus historischen Sammlungen in ganz Europa zusammen. Als Ergebnis dieser Arbeiten entstand die Ausstellung »Europa in Bewegung«, die – nach Stationen in Amsterdam und Athen –noch bis zum 25. August 2019 im »LVR-LandesMuseum« in Bonn zu sehen ist. Dieses Buch stellt den Begleitband dazu dar, und es trägt unterhaltsam und gut zugänglich dazu bei, die Vielfalt der frühmittelalterlichen Kulturen und deren gegenseitiger Verflechtungen zu verstehen.
Die mehr als 20 Beiträge beleuchten exemplarisch einige Gesellschaften, die sich nach dem Fall (West-)Roms herausbildeten. Dabei geht die Perspektive erfreulich weit über den unmittelbaren Mittelmeerraum hinaus und umfasst unter anderem auch das Sassanidenreich und die Kiewer Rus in Osteuropa. Zudem behandelt das Buch die vielfältigen Verbindungen zwischen all diesen Kulturen – in Form von Kriegen, Handel, diplomatischen Kontakten und Wissenstransfer. Schließlich widmen sich die Autoren der heutigen Rezeption des frühmittelalterlichen Europa. Positiv ins Auge sticht die Vielfalt ihrer Standpunkte. So weist der – europakritische – Historiker David Abulafia von der University of Cambridge zu Recht darauf hin, wie problematisch die Konstruktion einer »europäischen« Identität in der damaligen Zeit ist.
Theophanus Heirat
Exemplarische Porträts verschiedener »Reisender«, also historisch belegter Personen, die Bindeglieder zwischen Kulturen und Identitäten darstellten, lockern den Band auf. Geschrieben wurden sie zum Teil von einem Blogger, der – im Gegensatz zu den anderen Autoren – nicht als Wissenschaftler oder in einem Museum arbeitet. Positiv hervorzuheben ist, dass hier auch Frauen erscheinen. Die byzantinische Prinzessin Theophanu beispielsweise heiratete ins Ostfränkische Reich ein und regierte dort »wie ein Mann«. Die Pilgerin Egeria wiederum, die wohl aus Galicien im heutigen Spanien über Konstantinopel und Jerusalem nach Ägypten und Syrien reiste, ließ in einer Art Reisebericht andere Frauen an ihren Erlebnissen teilhaben.
Wie dunkel das »finstere Mittelalter« tatsächlich war und wie die verschiedenen europäischen Regionen mit dem Erbe des (West-)Römischen Reichs umgingen, dazu liefert die Lektüre aufschlussreiche Einblicke. Während sich etwa das Oströmische Reich trotz islamischer Expansion erstaunlich lange behauptete, wurden West- und Mitteleuropa von Umbrüchen und Migrationsbewegungen geprägt. Die Etablierung zahlreicher kleinerer Königreiche und Dynastien hatte zur Folge, dass Fragen der Legitimation, der regionalen Identität und Zugehörigkeit hier eine sehr große Bedeutung bekamen. Archäologische Funde machen sichtbar, welche Antworten die Menschen hierauf gaben. Alltags- und Kunstgegenstände zeigen beispielsweise, wie regionale Bildsprachen und Stile entstanden und wie diese exportiert beziehungsweise importiert wurden. Indischer Granat auf einer fränkischen Scheibenfibel oder eine Münze aus dem syrischen Kalifat in einem belgischen Hort illustrieren anschaulich, wie komplex die damaligen Handelsbeziehungen waren.
Besonders interessant zeigt sich der Schlussteil des Buchs, der ein weiteres Kernanliegen des Forschungsprojekts diskutiert: die Entwicklung multimedialer Technologien für die Rezeption des frühen Mittelalters in Museen. Beispielhaft stellen die Autoren etwa eine interaktive Installation vor, die ein Objekt für Besucher unmittelbar und im Detail erfahrbar macht. Wim Hupperetz, Direktor des Allard Pierson Museum und Professor für Niederländische Kulturgeschichte an der Vrije Universiteit Amsterdam, setzt sich überzeugend mit dem Wandel musealer Ausstellungspraxis auseinander. So führt das »Paradox des digitalen Erbes« zu hohen Erwartungshaltungen hinsichtlich des Einsatzes neuer Medien in Museen, die diese oft nicht erfüllen können. Hupperetz zeigt aber auch, dass die digitalen Medien den Museen große Chancen bieten, sowohl den Kontext ausgestellter Objekte als auch verschiedene Perspektiven zu integrieren, die mit traditionellen Ausstellungsmethoden schwer sichtbar zu machen sind.
Es handelt sich allerdings nicht um einen klassischen Ausstellungskatalog: Der eigentliche Katalog der Exponate fehlt, sodass gelegentlich die Frage offen bleibt, ob das jeweils vorgestellte Objekte auch in der Ausstellung selbst zu finden ist. Bemängeln lässt sich weiterhin, dass das Buch am typischen Zielkonflikt von Museumstexten leidet, Kürze und Verständlichkeit mit angemessener Komplexität und wissenschaftlicher Transparenz zu vereinen. Besonders stark macht sich das bei den Porträts der »Reisenden« bemerkbar, die jeweils nur eine Doppelseite umfassen und daher zwangsläufig ziemlich oberflächlich bleiben. Unterm Strich jedoch dürfte das Werk seine angepeilte Zielgruppe erreichen, unter der man sich eine interessierte, breitere Öffentlichkeit vorzustellen hat.
»Europa in Bewegung« bietet seinen Leser(inne)n eine interessante Reise durchs frühmittelalterliche Europa, die vor allem die damaligen kulturübergreifenden Vernetzungen sichtbar macht. Das erklärte Ziel der Herausgeber, ein »Verständnis von Vielfalt und Verbindungen zwischen Menschen« zu fördern, wird erreicht.
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