Aus Inseln entstanden
Der australische Biologe und bekannte Buchautor Tim Flannery wagt in seinem aktuellen und äußerst lesenswerten Werk einen besonders großen Wurf. Denn in »Europa – Die ersten 100 Millionen Jahre« blickt er auf den gesamten Kontinent mit dessen wechselvoller Geschichte. Nach Flannery nimmt diese ihren Anfang mit »dem Augenblick der Zeugung Europas – also dann, als die ersten spezifisch europäischen Organismen entstanden sind«, eben vor ungefähr 100 Millionen Jahren.
Naturgeschichten umfassten sowohl die natürlichen als auch die menschlichen Welten, schreibt der Autor, und sein Buch fokussiert entsprechend auf drei große Fragen: »Wie ist Europa entstanden? Wie wurde seine außergewöhnliche Geschichte erforscht? Und warum wurde Europa in der Welt so wichtig?« Selbst diese wenigen Schwerpunkte liefern weit mehr Material, als zwischen zwei Buchdeckel passt. Zum Glück für seine Leser gelingt es Flannery aber, die Bögen zu spannen, ohne sich in allzu vielen Details zu verlieren.
Ein Kind Asiens, Nordamerikas und Afrikas
Dafür beleuchtet er in oft kurzen und kurzweiligen Kapiteln einzelne Episoden, die sich wunderbar zu einer sehr persönlich gefärbten Erzählung zusammenfügen. Und zu erzählen gibt es viel aus Europas kontinentaler Vergangenheit, die einzigartig anmutet. So sind die meisten Kontinente aus Zerfallsprodukten von Superkontinenten entstanden. Europa dagegen habe als Archipel angefangen, so Flannery. Die Zeugung des Kontinents habe das geologische Zusammenwirken dreier kontinentaler »Eltern« umfasst: Asien, Nordamerika und Afrika.
»Diese machen zusammengenommen ungefähr zwei Drittel der Landfläche der Erde aus, und da Europa als eine Brücke zwischen diesen Landmassen fungiert, war es der wichtigste Ort des Austausches in der Geschichte des Planeten«, heißt es im Buch. Unablässig wanderten hier Bewohner ein und blieben oft lange genug, um sich mit anderen Arten zu mischen. Mehrfach geht Flannery auf die Bedeutung solcher »Hybridisierung« ein, weil sie die speziesübergreifende Weitergabe von Genen ermögliche, die es Organismen erlaubten, in neuen und schwierigen Umgebungen zu überleben.
Die extremen Klimaschwankungen auf dem europäischen Kontinent unterwarfen die hiesige Fauna und Flora einem steten Wandel. So reicht das erstaunlich vielfältige Bestiarium, das der Autor vorstellt, von tropischen Korallenriffen in Europas Urmeeren über amphibische Überlebenskünstler, tödliche Säbelzahnkatzen und mörderische »Terminator-Schweine« bis zur eiszeitlichen Megafauna.
Woher wissen wir davon? »Die Europäer haben zudem einen außerordentlich reichhaltigen Schatz an naturkundlichen Beobachtungen hervorgebracht«, schreibt Flannery, der den Bogen von Herodot bis zu dem amerikanischen Evolutionsbiologen Jared Diamond spannt. Neben altbekannten Größen wie Charles Darwin flicht er auch pointierte Porträts von weniger bekannten Wissenschaftlern ein, die bis heute helfen, die Vergangenheit des Kontinents zu entschlüsseln – in teils aufopfernder Kleinarbeit.
Der Paläontologe Jerry Hooker beispielsweise durchsiebt auf der Suche nach besonders kleinen Knochen- und Zahnresten tonnenweise Erde und Sediment, wobei er oft stundenlang in eiskaltem Wasser steht. »Im Laufe seiner Karriere hat er so viele winzige Fossilien gefunden, dass man mit ihnen acht Zigarettenschachteln füllen könnte«, schreibt Flannery. Das klingt überschaubar, birgt aber Glanzstücke wie die mindestens 33 Millionen Jahre alten Überreste des ältesten Maulwurfs der Welt.
Wie Flannery aus der eigenen wissenschaftlichen Arbeit weiß, verläuft der Weg zur Erkenntnis nicht immer geradlinig: Die Lektüre ist stets dort besonders amüsant, wo er die weniger treffsicheren Analysen seiner Vorgänger skizziert, die beispielsweise Dinosaurierknochen als versteinerte Hoden ausgestorbener Riesen in die Geschichte eingehen ließen.
Von Beginn an veränderten die Homininen das Gesicht des Kontinents ganz grundlegend – schon zu Zeiten der Jäger und Sammler, noch viel mehr aber mittels Ackerbau und Domestizierung. Ob wir Europäer uns den gegenwärtigen Herausforderungen wie dem Klimawandel gewachsen zeigen und kreative Lösungen entwickeln? Flannery hat hier vollstes Vertrauen: »So dynamisch und abenteuerlustig, wie sie nun einmal sind, kommen den Europäern immer wieder neue Ideen.«
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