Weiterentwicklung der Evolutionstheorie?
Bei Debatten rund um die Evolutionstheorie kommt das Gespräch heute rasch auf den Kreationismus, also die Auffassung, alle Lebewesen seien durch das Eingreifen eines schöpferischen Gottes in natürliche Vorgänge entstanden. Die Verfechter dieser Pseudowissenschaft artikulieren sich in den Vereinigten Staaten dermaßen lautstark, dass sie einen durchaus erheblichen Einfluss auf das Bildungswesen nehmen konnten. In Europa ist der Kreationismus eine Randerscheinung, findet aber Zulauf. Dazu mag beitragen, dass die Synthetische Evolutionstheorie, welche die klassischen Arbeiten von Alfred Russel Wallace und Charles Darwin mit der Genetik und anderen neueren Fachdisziplinen verknüpft, noch etliche Fragen offen lässt, obwohl sie wissenschaftlicher Konsens ist. Evolutionsbiologen arbeiten deshalb daran, die Theorie zu erweitern und die Wissenslücken zu schließen.
Eine besonders umfassende Modifikation der Synthetischen Evolutionstheorie stellen die Biologinnen Eva Jablonka und Marion J. Lamb in diesem Werk vor, das bereits vor zehn Jahren erstmals auf Englisch erschien und nun ins Deutsche übersetzt wurde. Mit den "vier Dimensionen" meinen die Autorinnen Faktoren, die den Phänotyp eines Lebewesens prägen und an nachfolgende Generationen vererbt werden können. Dies sind erstens Gene; zweitens Variationen des Erbmaterials, die Genaktivitäten beeinflussen – so genannte epigenetische Modifikationen; drittens Verhaltensmuster; viertens Symbole, beispielsweise Sprachmuster. All diese Faktoren ordnen die Autorinnen als Vererbungssysteme ein.
Das egoistische Gen?
Damit relativieren Jablonka und Lamb die Bedeutung der Gene, die zur Blütezeit der Molekularbiologie oft als alleinige Vehikel der Vererbung angesehen wurden. An manchen Stellen wirkt ihr Buch im Hinblick auf die Molekularbiologie geradzu spöttisch, was sich in Ausdrücken wie "genetische Astrologie" äußert und einem wissenschaftlichen Werk wenig angemessen erscheint. Davon abgesehen werden die Autorinnen der Komplexität des Themas durchaus gerecht. Gestützt auf aktuelle Forschungsergebnisse, erläutern sie die Vererbungsmechanismen von genetischen, epigenetischen, symbol- und verhaltensspezifischen Faktoren; suchen nach Erklärungen, wie diese vier Vererbungssysteme entstanden sind; und stellen wechselseitige Beziehungen zwischen ihnen her.
Auch Biologen erleben bei der Lektüre etliche Aha-Momente, etwa wenn die Autorinnen das Thema Epigenetik behandeln. Demzufolge stellt die Vererbung epigenetischer Modifikationen einen besonders effizienten Mechanismus dar, um sich an Umweltbedingungen anzupassen, die zyklischen Veränderungen unterworfen sind. Man denke etwa an einen einzelligen Organismus, dessen Lebensdauer nur eine Stunde beträgt und der in einer Umgebung lebt, in der es abwechselnd zehn Stunden lang heiß und ebenso lange kalt ist. Mit diesen wechselnden Bedingungen kann der Organismus sehr gut zurechtkommen, indem ein temperaturabhängiger epigenetischer Schalter dafür sorgt, dass das jeweils passende Set an Genen aktiviert wird.
Auch bezogen auf die Ebene der Gene warten Jablonka und Lamb mit überzeugenden Beispielen auf. Beispielsweise kann die Einrichtung von Gehörlosenschulen dazu führen, dass genetisch bedingte Taubheit häufiger wird, da an diesen Einrichtungen mit größerer Wahrscheinlichkeit Paare zusammenfinden, die eine entsprechende erbliche Prädisposition mitbringen und an ihre Kinder weitergeben.
Im Fahrwasser Lamarcks
Mit steigender Seitenzahl nimmt der Abstraktionsgrad des Buchs zu, während das Werk zugleich immer stärker vom wissenschaftlichen Konsens abweicht. Indem die Autorinnen die Vererbung erworbener Eigenschaften postulieren, plädieren sie explizit für eine Neubelebung des Lamarckismus. Wie es jenseits der Epigenetik zur Vererbung erworbener Eigenschaften kommen soll, erklären sie allerdings an vielen Stellen nur unzureichend. Dies wirft ernsthafte Zweifel an der wissenschaftlichen Fundiertheit ihrer Thesen auf und macht das Buch sehr provokant. Die Autorinnen sind sich dessen bewusst und kontern mit einem ungewöhnlichen literarischen Element: Am Ende jedes Kapitels steht ein fiktiver Dialog mit einem Advocatus Diaboli, einem "Anwalt des Teufels", der die dargestellten Thesen kritisch hinterfragt.
Das Werk richtet sich an einschlägig vorgebildete Leser(innen). Zwar illustrieren amüsante Illustrationen und anschauliche Bilder den Text und erleichtern das Verständnis; dennoch werden Laien der komplexen Argumentation der Autorinnen vielfach kaum folgen können. In jedem Fall vermittelt der Band einen Eindruck davon, wie vielschichtig die Evolutionsbiologie ist, und präsentiert zahlreiche interessante Gedankenexperimente, die zum Grübeln anregen. Unter anderem entführen die Autorinnen ihre Publikum auf fiktive fremde Planeten, auf denen vollkommen andere Vererbungsregeln gelten als auf der Erde.
Allerdings konstruieren die Autorinnen manchmal schiefe Vergleiche. Zum Beispiel, wenn sie Parallelen ziehen zwischen einer Gensequenz und einer Partitur, indem das gespielte Musikstück das Produkt des aktiven Gens symbolisiert. Variationen beim Interpretieren der Partitur, die beim Publikum besonders gut ankommen, mögen zu entsprechenden Änderungen des Notenbilds führen. Keineswegs lässt sich daraus aber ableiten, dass vorteilhafte Änderungen im Erscheinungsbild eines Individuums auch entsprechende Modifikationen der korrespondierenden Gensequenz zur Folge haben. Bei solchen und ähnlichen Konstruktionen entwickelt sich das Werk zunehmend zu einem Balanceakt zwischen eleganten Ausführungen und unsauberen Gleichsetzungen.
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