Wunderwelt der Evolution
Der Homo sapiens, erklärt der Evolutionsbiologe Josef Reichholf, sei ein Geschöpf der Tropen. Sein Stoffwechsel sei genau auf das tropische Klima in Afrika zugeschnitten. Betrage die Umgebungstemperatur 27 Grad Celsius, verliere der menschliche Körper ebenso viel Wärme, wie er erzeuge. Sinkt die Außentemperatur unter diesen Wert, sind Menschen demnach gezwungen, sich körperlich zu bewegen oder den Wärmeverlust zu reduzieren, indem sie Kleidung tragen oder Wärmequellen wie das Feuer nutzen.
Unsere fernen Vorfahren sollten sich auf dem afrikanischen Kontinent also recht wohl gefühlt haben. Wie ist es dann zu erklären, fragt Reichholf, dass sie sich mehrere Male auf das Wagnis einließen, den Kontinent zu verlassen und nach Asien, Europa, Neuguinea-Australien und schließlich Amerika vorzudringen? Raubtiere oder Nahrungsmangel dürften sie kaum vertrieben haben. Doch was dann? Tsetsefliegen, behauptet der Biologe.
Auf Flucht vor den Plagegeistern
Laut dem Autor nahmen Tsetsefliegen und andere blutsaugende Insekten in den afrikanischen Troßen periodisch überhand – nämlich immer dann, wenn eine Eis- von einer Warmzeit abgelöst wurde und die Niederschläge erheblich zunahmen. Tsetsefliegen können den Erreger der Schlafkrankheit übertragen. Mit Ausnahme des Zebras sind die großen Säugetiere der afrikanischen Savanne dagegen immun, nicht aber Homo sapiens und seine Vorfahren. Überdies sind Menschen wegen ihrer nackten Haut besonders anfällig für Insektenstiche. Also, folgert Reichholf, kam es wahrscheinlich immer dann zu einem Exodus aus Afrika, wenn Fliegen und Mücken zur Massenplage wurden.
Bei einer solchen Migration gelangte Homo sapiens nach Asien und Europa, wo er ebenfalls Großsäuger als Nahrung vorfand, doch den Angriffen von Blutsaugern viel weniger ausgesetzt war. Zum Schutz gegen die nächtliche und winterliche Kälte hüllte er sich in Tierfelle und entfachte Lagerfeuer. Ein nützlicher Nebeneffekt der tiefen Temperaturen, schreibt Reichholf, sei die längere Haltbarkeit des erbeuteten Fleischs gewesen.
Der Hautfarbstoff Melanin schützt vor den UV-Anteilen der Sonnenstrahlung und somit vor UV-induziertem Hautkrebs. Demnach müssten Menschen umso dunkelhäutiger sein, je näher sie am Äquator leben. Reichholf weist jedoch darauf hin, dass die Ureinwohner Australiens ausnahmslos dunkelhäutig sind, obwohl nur ein winziger Teil ihres Kontinents zur tropischen Zone gehört. Hingegen hätten Amazonas-Indianer eine ziemlich helle Haut, obwohl sie in den Tropen leben. Im südlichen Asien wiederum gebe es Ethnien, die sich in der Hautfarbe deutlich unterscheiden, obwohl sie unmittelbare Nachbarn seien. Der Autor führt das darauf zurück, dass manche Ethnien schon seit derart langer Zeit Kleidung tragen, dass Dunkelhäutigkeit für sie keinen Selektionsvorteil mehr darstellt – trotz intensiver Sonneneinstrahlung.
Gefahr von den Kleinen
An solchen Beispielen verdeutlicht Reichholf die Evolutionsgeschichte des Menschen. Der Biologe befasst sich mit der Entstehung des aufrechtes Gangs ebenso wie mit dem Verlust des Fells, der Entwicklung des Gehirns, des Sprechapparats und der Hände. Plausibel belegt er, dass nicht etwa Raubtiere den Menschen immer am meisten zu schaffen machten, sondern Insekten, Bakterien, Pilze und Viren.
Reichholf widmet sich auch der Erdgeschichte, dem Ursprung des Lebens, der Vielfalt der Lebensformen und den wichtigsten Ursachen des Artensterbens. Sogar auf kulturelle Phänomene wie die (Selbst-)Domestikation des Hundes geht er ein. Bei alldem lässt er sich von der Grundannahme leiten, Evolution sei als ein Prozess der schrittweisen "Emanzipation" von den Zwängen der Umwelt zu begreifen.
Das Werk überrascht manchmal mit gewagten Thesen. Fachlich Versierte könnten sich daran stören. Allerdings versteht der Band sich vor allem als Jugendbuch. Als solches überzeugt er mit zugleich verständlicher, anspruchsvoller und ausgesprochen origineller Darstellung. Ein Werk, das junge Leser neugierig macht und ihnen die Augen für große Zusammenhänge öffnet – auch wenn diese unter Wissenschaftlern nicht unumstritten sind.
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