Direkt zum Inhalt

»Evolutionäre Erkenntnistheorie«: Die Evolution von Denken und Erkennen

Immer noch aktuell und lesenswert: Gerhard Vollmer erklärt, wie sich unser Denken im Laufe von Jahrmillionen an die Welt angepasst hat.
Ein rotierender Globus mit verschwommenen Farben der Länder.

Der Physiker und Philosoph Gerhard Vollmer hat sein Buch über die Evolutionäre Erkenntnistheorie bereits im Jahr 1975 vorgelegt. Nun erscheint davon die neunte unveränderte Auflage. Das zentrale und noch immer aktuelle Thema ist die Frage, wie wir die Welt erkennen können. Nach Vollmers Ansicht sind die die menschliche Erkenntnis bestimmenden Faktoren kein Zufall, sondern lassen sich auf natürliche Weise erklären. Unser Denken ist eine Leistung des menschlichen Gehirns, das sich in Jahrmillionen an die Welt angepasst hat. Dies illustriert die Bedeutung von evolutionären Prozessen auch für die Philosophie, die dem Buch den Titel geben.

Die Idee, dass nicht nur körperliche Eigenschaften, sondern auch unser Denken durch die Evolution beeinflusst ist, vertrat bereits Konrad Lorenz: Der Mensch ist ein Lebewesen, das seine Eigenschaften und Leistungen, einschließlich seiner hohen Fähigkeiten des Erkennens, der Evolution verdankt. Ähnliches war in den 1950er Jahren von dem Biologen Ludwig von Bertalanffy formuliert worden, der die Bedeutung der Welt der mittleren Dimensionen hervorhob. Diese Gedanken werden in dem vorliegenden Buch vertieft, und der Mesokosmos wird als der Gegenstandsbereich der Philosophie der für den Menschen anschaulich erfassbaren Objekte behandelt. Bei der Beschreibung der Wege zur Erkenntnis, die ja das Ziel der Philosophie ist, werden viele verschiedene Wissenschaftsgebiete behandelt: von der Philosophie mit ihren verschiedenen Strömungen über die Biologie und Psychologie bis zur Anthropologie und Sprachwissenschaft. Folglich lassen sich die Gedanken als universelle Evolution zusammenfassen, die alle Wissensgebiete durchzieht. Das Prinzip der Evolution gilt sowohl für den Kosmos als Ganzes wie für Spiralnebel, Sterne mit ihren Planeten, für den Erdmantel, Pflanzen, Tiere und Menschen, für das Verhalten und die höheren Fähigkeiten der Tiere; es gilt aber auch für Sprache und Sprachen und für die historischen Formen menschlichen Zusammenlebens und Wirkens, für Gesellschaften und Kulturen, für Glaubenssysteme und Wissenschaften. Mit diesem breiten Ansatz schafft der Autor auch eine oft vernachlässigte Verbindung zwischen den Natur- und den Kulturwissenschaften, denn die biologische Evolution endet nicht dort, wo eine kulturelle Evolution einsetzt. Bei der Evolution des Menschen wirken vielmehr biologische und kulturelle Faktoren zusammen.

Ein zentraler Punkt der Ausführungen ist die Bedeutung der Biologie für die Evolutionäre Erkenntnistheorie. Alle kognitiven Strukturen des Menschen werden von den Verarbeitungsmechanismen des zentralen Nervensystems bestimmt und sind somit vorgegeben: Unsere Sinnesorgane und unser Gehirn bilden die Basis für die Sinnesleistungen – die Wahrnehmung unserer Umwelt – ebenso wie für kognitive Fähigkeiten. Höhere Hirnfunktionen wie Lernen und Gedächtnis, Sprache, Vorstellungsvermögen und komplexe Verarbeitungsmechanismen erlauben uns, die objektiven Strukturen der Außenwelt zu rekonstruieren und zu erkennen. Dies beruht auf der Interpretation von Nervenimpulsen, und der Autor illustriert, wie auch qualitative Unterschiede zwischen verschiedenartigen Empfindungen und der Wahrnehmung zu einer Rekonstruktion unserer Welt und der äußeren Objekte führt.

Alle kognitiven Leistungen sind außerdem in hervorragender Weise auf die Umwelt abgestimmt. Der Grund hierfür ist, dass sich unsere kognitiven Fähigkeiten parallel zu den Funktionen des Gehirns durch die Evolution und Anpassung an die Außenwelt über sehr lange Zeiträume entwickelt haben. Es ist inzwischen akzeptiert, dass die Evolution eine zentrale und integrative Rolle für die Biologie und die einzelnen Organismen spielt. Deswegen stellt das Faktenwissen der Biologie einen zentralen Schlüssel für die Erkenntnis der Dinge und Zusammenhänge unserer Welt dar. Unsere subjektiven Erkenntnisse sind optimiert, weil sie sich während der Evolution an die reale Welt angepasst haben, und es überlebt nur, wer hinreichend angepasst ist.

Wie Ernst Peter Fischer im Vorwort schreibt, kann die unveränderte Auflage des Buches eine Evolution des Verstehens bewirken. Dem kann man uneingeschränkt zustimmen und dem flüssig geschriebenen und sehr lesbaren Werk viele neue Leser wünschen.

Kennen Sie schon …

Spektrum - Die Woche – Akustische Kur gegen Stress

Naturgeräusche haben eine unglaublich beruhigende Wirkung auf uns. Wieso das so ist und wie Vogelgezwitscher und Wasserrauschen im Gehirn verarbeitet werden und auf unsere Psyche wirken, lesen Sie in der aktuellen Ausgabe der »Woche«. Außerdem: Läutet das KI-Zeitalter eine neue Ära der Physik ein?

Spektrum - Die Woche – Wie die Guinness-Brauerei den t-Test erfand

Wer hätte gedacht, dass eine Brauerei der Geburtsort für eine der wichtigsten mathematischen Methoden ist? Dem Guiness-Bier haben wir zu verdanken, dass Ergebnisse in der Wissenschaft als statistisch signifikant gewertet werden können. Außerdem in dieser »Woche«: Wie Rauchen das Immunsystem stört.

Spektrum Kompakt – Entstehung des Lebens

Auf der Suche nach den Anfängen des Lebens sind viele Spuren verwischt. Sichere Aussagen über ursprüngliche Stoffwechselabläufe oder die Gründe der Molekül-Händigkeit fallen also schwer. Jedoch verstecken sich in Tiefsee und Weltall Hinweise darauf, wie das Leben auf der Erde entstanden sein könnte.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.