Darwins Vermächtnis
Die Frage im Untertitel des Buchs (»Ist Darwin überholt?«) soll wahrscheinlich Interesse wecken. Sie wirkt allerdings etwas merkwürdig. Nein, natürlich ist Darwin nicht überholt, denn die Evolution ist eine Tatsache und die zentrale Aussage der darwinschen Theorie wurde zigfach bestätigt: Arten ändern ab, weil ihre Individuen erbliche Merkmale haben und Veränderungen dieser Merkmale an ihre Nachkommen weitergeben, wobei die natürliche Selektion jene bevorzugt, die besser an ihre Umwelt angepasst sind. Ja, Darwin ist insofern überholt, als seine Theorie 160 Jahre alt ist und bis heute vielfach erweitert wurde; es wäre geradezu bizarr, würde sie noch unverändert gelten.
Der Biologe Axel Lange, Autor des Buchs, schreibt eingangs, Darwins Theorie habe zwei große Lücken gehabt: Sie habe nicht beantwortet, wie die Vererbung erfolge und woher die Variation der erblichen Merkmale komme. Eigenartigerweise lässt er dort unerwähnt, dass Darwin das gar nicht wissen konnte – der Nachweis, dass die Erbinformation über DNA weitergegeben wird, erfolgte mehr als 80 Jahre nach Erscheinen der darwinschen Theorie. Das erstaunt umso mehr, da Lange wenig später selbst erörtert, wie mühsam die Suche nach der Erbsubstanz im 20. Jahrhundert war.
Erweiterte Sicht
Die heute gängige Synthetische Evolutionstheorie vereint die Theorien Darwins und Alfred Russel Wallaces mit Erkenntnissen aus der Genetik, Paläontologie, Populationsbiologie, Zoologie und Botanik. Lange möchte in seinem Werk zeigen, dass sie das evolutionäre Geschehen nicht hinreichend erfasst. Er plädiert dafür, die Theorie umfassend zu erweitern, insbesondere um die Perspektiven der Evolutionären Entwicklungsbiologie, der Entwicklungsplastizität, der inklusiven Vererbung und der Nischenkonstruktion. In jeweils eigenen Abschnitten stellt er diese Ansätze näher vor und erläutert sie anhand von Beispielen. Zudem beschreibt er Forschungsprojekte, die darauf abzielen, eine erweiterte Synthese der Evolutionstheorie empirisch zu untermauern und ihr eine klare Struktur zu geben.
Der Autor betont immer wieder, die gängige Theorie könne nur unzureichend erklären, wie es in der Evolution zu sprunghaften, komplexen Änderungen im Erscheinungsbild von Organismen komme. Auch spiele der Zufall, in Form von Mutationen, eine kleinere Rolle für das evolutionäre Geschehen als weithin angenommen. Es seien nicht nur genetische Vorgänge dafür verantwortlich, dass sich Organismen evolutionär verändern, sondern auch solche, die beispielsweise von Zellen und Zellverbänden vermittelt werden. Zudem würden Merkmale nicht bloß über Gene vererbt, sondern auch epigenetisch, verhaltensorientiert oder kulturell. Zwischen all diesen Ebenen bestünden vielfältige Wechselwirkungen. Ferner spiele die natürliche Selektion nicht immer eine solch zentrale Rolle im evolutionären Geschehen, wie die Synthetische Evolutionstheorie dies annehme. Schließlich seien Organismen nicht nur passiv der natürlichen Selektion ausgesetzt, sondern konstruierten ihre Umwelt auch aktiv mit.
Das sind alles stichhaltige Punkte, mit denen es sich zu befassen lohnt. Es ist verdienstvoll, dass Lange sie in seinem Buch erörtert und darlegt, mit welchen Herausforderungen die Evolutionsforschung konfrontiert ist.
Leider erweist sich das Buch streckenweise als schwer zugänglich. Dazu tragen der manchmal ausgeprägte Nominalstil und die hohe Dichte an Fachbegriffen bei: »Oder die Extended Evolutionary Synthesis fügt die Bedeutung von Variationstendenz in der Entwicklung und Plastizität bei der Gestaltung phänotypischer Variation hinzu, die der Selektion zur Verfügung stehen.« Der komplizierte Stoff wäre wohl auch leichter verständlich, wenn er mehr an konkreten, nachvollziehbaren Beispielen vermittelt würde. Zwar präsentiert der Autor in einem eigenen Abschnitt ausgewählte Forschungsergebnisse der Evolutionären Entwicklungsbiologie – empirische Erkenntnisse also dazu, welche Rolle die Individualentwicklung der Lebewesen im evolutionären Geschehen spielt. Das ist ein hochspannendes Thema, über das Lange selbst gearbeitet hat. Und wenn er sein eigenes Forschungsgebiet beschreibt, die Entstehung überzähliger Finger und Zehen bei Neugeborenen, ist das detailliert und aufschlussreich. Die anderen Beispiele, die er bringt, bleiben aber oft vage. Einige Aussagen im Buch erscheinen wolkig und nicht gut belegt, etwa dass »morphologische Variationen … zuerst entstehen und nachträglich genetisch stabilisiert werden« könnten, wodurch »phänotypische Modifikation einer genetischen Änderung vorausgehen« könne.
Um zu unterstreichen, dass die Evolutionstheorie ihr Blickfeld stark ausweiten muss, wolle sie sich mit künftigen Veränderungen des Menschen befassen, behandelt Lange in einem der letzten Kapitel die Entwicklung des Homo sapiens in der hochtechnisierten Welt von heute und morgen. Dabei streift er die Themen Biotechnologie, künstliche Intelligenz und Transhumanismus – bisweilen mit einem Hang zur Dystopie. Das ist interessant und bringt noch einmal ganz neue Aspekte hinein; diese Themen bieten schon für sich allein genug Stoff für ein eigenes Buch.
Zusammenfassungen am Ende jedes Kapitels helfen bei der Orientierung; die vielen Literaturverweise und Tipps zum Weiterlesen geben zahlreiche Anregungen. Als nützlich erweisen sich zudem das umfangreiche Glossar sowie Kurzporträts etlicher Wissenschaftler(innen) der Evolutionsforschung.
Das Buch lenkt den Blick auf ein wichtiges Wissenschaftsgebiet, verdeutlicht Schwierigkeiten der heutigen Evolutionstheorie und stellt spannende Ansätze wie die Evolutionäre Entwicklungsbiologie vor, die mögliche Auswege weisen. Mit seinen oft abstrakten Ausführungen, seinem mitunter schwer verständlichen Stil und einigen Längen stellt es allerdings hohe Ansprüche an die Leser.
Hinweis der Redaktion: »Spektrum der Wissenschaft« und Springer-Verlag GmbH gehören beide zur Verlagsgruppe Springer Nature. Dies hat jedoch keinen Einfluss auf die Rezensionen. »Spektrum der Wissenschaft« rezensiert Titel aus dem Springer-Verlag mit demselben Anspruch und nach denselben Kriterien wie Titel aus anderen Verlagen.
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