»Expeditionen zu den Ersten ihrer Art«: Vom Reichtum der Natur
Das weltweite Artensterben setzt sich fort. Kein Wunder also, dass immer mehr Fachleute auf diesen Verlust und seine möglichen Folgen für Mensch und Umwelt aufmerksam machen und versuchen, Wertschätzung für die bedrohte Vielfalt zu wecken.
So auch der Biodiversitätsforscher Michael Ohl in seinem neuen Buch. »Expeditionen zu den Ersten ihrer Art« stellt für ihn gewissermaßen die Ergänzung zum bekannten Werk »Die Letzten ihrer Art« von Douglas Adams und Mark Carwardine dar. Darin berichteten der Sciencefiction-Autor und der Zoologe von ihren Reisen in den 1980er Jahren zu Tierarten, die damals stark bedroht waren oder kurz vor dem Aussterben standen.
Im Gegensatz dazu widmet sich Ohl der Entdeckungsgeschichten bekannter Arten: vom imposanten Okapi, der Waldgiraffe, die Anfang des 20. Jahrhundert beschrieben wurde, bis zum Fund der winzigen Vertreter der Stämme Loricifera, Cycliophora und Micrognathozoa zwischen den 1980er und 2000er Jahren. So amüsant wie Douglas gelingt ihm das zwar nicht, dennoch besticht das Buch durch seine reizvolle optische Aufmachung und die ausgewählten Beispiele, die einen guten Eindruck davon vermitteln, wie aufwändig, aufregend und mitunter Aufsehen erregend die gezielte Suche oder aber das mehr oder weniger zufällige Stolpern über ein »neues« Tier sein kann.
Kritische Auseinandersetzung
Lobenswert ist auch, dass der Autor über den Begriff und die Umstände der »Entdeckungen« nachdenkt. Einige seiner Quellen stammen aus der Kolonialzeit und spiegeln dementsprechend meist ausschließlich eine westliche Perspektive und ein ebensolches Wissenschaftsverständnis wider. Viele Tierpräparate aus der damaligen Zeit befinden sich zudem in europäischen Museen und Forschungssammlungen, werden aber zunehmend im Kontext ihrer kolonialen Vergangenheit aufgearbeitet.
Sinnvollerweise beschreibt der Autor auch, wie Arten nach den Regeln der Taxonomie erfasst und benannt werden – und dass dabei durchaus Fehler passieren können, wie im Fall der beiden heute bekannten Gorilla-Arten, die zwischen 1847 und 1943 sage und schreibe etwa 20-mal fälschlicherweise als neue Art beschrieben wurden. Dabei spielen nicht nur Irrtümer der Forschenden eine Rolle – hervorgerufen zum Beispiel durch unterschiedlich gefärbte Kopfhaare bei verschiedenen Gorillas derselben Art –, sondern mitunter auch das Streben, der Erste zu sein, der die Neuentdeckung macht.
Manchmal führt wissenschaftlicher Ehrgeiz sogar zu mutmaßlichem Betrug, wie Ohl am Beispiel des Manado-Quastenflossers zeigt. Die Vorfahren des großen Knochenfisches durchschwammen die Weltmeere bereits vor mehr als 360 Millionen Jahren – länger, als manche Dinosaurier lebten –, gelten wegen ihrer auch amphibischen Merkmale als Brückentiere und wurden lange als ausgestorben angesehen. Umso begeisterter war man, als man im 19. Jahrhundert nicht nur auf eine, sondern auf gleich zwei lebende Quastenflosser-Arten stieß.
Ein Forschungsteam veröffentlichte 1999 die Ergebnisse genetischer und anatomischer Untersuchungen des bei Indonesien gefundenen Quastenflossers und sicherte sich so dessen Rang als eigenständige zweite Art sowie den wissenschaftlichen Namen Latimeria menadoensis. Die Wissenschaftler gaben an, das Tier entdeckt zu haben, und legten zum Beweis ein Foto vor, das sich allerdings als Fälschung entpuppte. Zuerst hatte wohl Arnaz Mehta Erdmann den Fisch entdeckt. Ihr Mann, der Meeresbiologe Mark Erdmann, hatte den Manado-Quastenflosser zeitgleich mit den anderen Wissenschaftlern erforscht, zog aber wegen derer schnellerer Veröffentlichung den Kürzeren.
Ohl beendet sein Buch mit einem Ausblick, in dem er schätzt, dass möglicherweise erst 10 bis 15 Prozent aller Arten weltweit entdeckt wurden. Wie bei diesem Thema wohl leider unvermeidlich, erwähnt er auch den Klimawandel, das Schwinden von Lebensräumen und andere Faktoren, die immer mehr Tiere aussterben lassen. Dabei bieten Arten in ihrer Vielfalt nicht nur Lösungen bei drängenden Themen wie der Klimaregulierung und der Sicherung von Grundbedürfnissen wie der Ernährung. Mit einer genaueren Kenntnis von ihnen ließen sich möglicherweise auch Pandemien frühzeitig erkennen und eindämmen, schreibt Ohl.
Für ihn ist deshalb klar, dass es neben dem Schutz der bedrohten Vielfalt auch mehr und vor allem schnellere Anstrengungen bei der Erforschung der noch unentdeckten Arten braucht – eine Mammutaufgabe, die sich vermutlich nur in einer gerechten Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern, neuen Forschungsmethoden und mehr Expertinnen und Experten bewältigen lässt.
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