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Berühr mich nicht

Wenn es uns nicht gut geht, ist es ein natürliches Verhalten, die Nähe zu einem vertrauten Menschen zu suchen, um sich umarmen und berühren zu lassen, sich angenommen zu fühlen und Spannung abzubauen. Dieses intuitive Vorgehen hilft uns, Stress und Konflikte zu bewältigen. Es setzt jedoch die Fähigkeit zum Körperkontakt voraus, und die ist nicht selbstverständlich. Laut den Autoren des vorliegenden Buchs (Kinderärzte, Psychologen und Therapeuten) kann diese Fähigkeit aus verschiedenen Gründen gestört sein.

Körperkontakt hat diverse physiologische Auswirkungen, eine der wichtigsten ist die verstärkte Ausschüttung des Hormons Oxytocin. Es verstärkt den Blickkontakt zwischen den Beteiligten, dämpft die Wahrnehmung von Schmerz und Angst. Das Gefühl einer gegenseitigen Bindung, die Verarbeitung sozialer Signale und das Einfühlungsvermögen werden dadurch gefördert. Positive Körperkontakte führen dazu, dass man besser mit Konflikten und Stress umgehen kann, mehr Kontrolle über seine Umwelt empfindet und selbstsicherer wird, was eine höhere Lebenszufriedenheit nach sich zieht und der Gesundheit zu Gute kommt.

Bei Säuglingen regulieren positive Körperkontakte unter anderem das Schlaf-Wach-Verhalten und fördern langfristig die körperliche und geistige Entwicklung. Auch für die Sprachentwicklung haben sie eine große Bedeutung, denn Berührungen bilden einen wesentlichen Bestandteil vorsprachlicher Kommunikation. Finden sie nicht oder nur eingeschränkt statt, beeinträchtigt das den späteren Spracherwerb.

Lebenslange Vermeidungshaltung

Laut den Autoren entwickelt sich eine Körperkontaktstörung, wenn physische Nähe unangenehme Gefühle hervorruft und die Betroffenen daraufhin beginnen, sie zu meiden. Dieses Verhalten verstärkt sich häufig selbst, indem mit sinkender Häufigkeit der Berührungen diese zunehmend abstoßend erlebt werden. Am Ende verhindern die Betroffenen körperlichen Kontakt zu anderen – je nach Schweregrad mehr oder weniger intensiv. Die Störung bleibt so auf Dauer stabil, kann sogar lebenslang anhalten, denn die Betroffenen machen keine korrigierenden Erfahrungen mehr. Selbst wenn es Menschen mit einer Körperkontaktstörung im Allgemeinen gut geht, ist ihre Lebensqualität beeinträchtigt. Denn ebenso wie andere Menschen brauchen sie Zuwendung, Annahme, Entspannung, Wärme und Gemeinsamkeit, auch wenn sie es nicht zeigen (können).

Die Grundlagen für eine solche Störung, schreiben Jansen und Streit, werden oft in den ersten Lebensjahren gelegt, weshalb die frühe Behandlung enorm wichtig ist. Zu den Risikofaktoren zählen eine verfrühte Geburt und die damit verbundenen langen Unterbrechungen körperlicher Nähe. Auch eine gestörte sensorische Integration erhöht das Risiko dieser Komplikation; die Betroffenen reagieren dabei überempfindlich oder zu schwach auf Reizungen des Tast-, Hör-, oder Gleichgewichtssinns.

Fehlendes Problembewusstsein

Wie aus dem Buch hervorgeht, gehören Körperkontaktstörungen zu den am häufigsten übersehenen Komplikationen. Betroffene zeigen oft Verhaltens- und Gefühlsstörungen. Um ihnen zu helfen, haben die Herausgeber in mehr als 20-jähriger Praxisarbeit die "Körperbezogene Interaktionstherapie" (KIT) entwickelt. Diese führt meist relativ rasch zu einem verbesserten Körper- und Blickkontakt zu anderen Menschen, und damit einhergehend zu einer besseren Beziehungsfähigkeit. Die Therapeuten versuchen vor allem zu erreichen, dass die Betroffenen solche Kontakte als positiv erleben können.

Die Therapie kann zusätzlich vorhandene Störungen ebenfalls positiv beeinflussen, erörtern die Autorinnen Kerstin Andes und Karina Wolf. Gerade bei Autismus, Traumatisierungen und beeinträchtigtem Ess- oder Sozialverhalten liege häufig eine unbehandelte Körperkontaktstörung vor. Um einer solchen vorzubeugen, müssten Ärzte besonders bei Frühgeborenen und Säuglingen mit Regulationsdefiziten darauf achten, ob diese hinsichtlich ihrer sensorischen Integration auffällig sind. Dafür gibt es erprobte Maßnahmen.

Das Buch ist durchweg gut lesbar und macht deutlich, wie wichtig es für Therapeuten, Psychologen, Ärzte, Hebammen, Lehrer und Erzieher ist, auf mögliche Körperkontaktstörungen der ihnen Anvertrauten zu achten. Ein empfehlenswertes Fachbuch für alle Berufstätigen, die mit Menschen arbeiten: spannend, aufschlussreich und voller praktischer Tipps. Leider fehlt ein Register, das die Orientierung erleichtern würde. Zudem hätten weniger Redundanz und eine weniger verästelte Binnengliederung das Werk übersichtlicher gemacht.

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