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Befremdliche Distanz

Der französische Philosoph Marquis de Condorcet (1743-1794) gehörte zu den Vordenkern der Aufklärung, einer Reformbewegung im 17. und 18. Jahrhundert, die als wegbereitend für die Moderne gilt. Nach verbreiteter Ansicht stammen viele Ideen und Auffassungen, die unser heutiges Leben prägen, aus dieser Epoche. So schrieb Condorcet den Frauen die gleichen intellektuellen Fähigkeiten wie den Männern zu und dachte darüber nach, ihnen dieselben Bürgerrechte zuzugestehen, ein damals revolutionärer Ansatz. Doch wie er dies begründete, kam blankem Zynismus gleich: Wenn man nicht nur gebildete, sondern auch ungebildete Männer an den Bürgerrechten teilhaben ließe, dann könne man ebenso gut auch Frauen einbeziehen. Aus heutiger Sicht fällt es somit schwer, Condorcet als Vorkämpfer für ein modernes Frauenbild anzusehen.

Die Historiker Andreas Pečar und Damien Tricoire stellen im vorgelegten Buch die Frage, ob unsere Ideen von Demokratie, Geschlechtergleichheit oder individueller Freiheit tatsächlich den Kern der Aufklärung ausmachten. Etliche Historiker nehmen das an, was die Autoren jedoch kritisieren. Ihrer Meinung nach haben viele Geschichtsforscher bei der Untersuchung der Aufklärungsepoche allzu sehr die heutige Welt im Blick, was zu einem voreingenommenen Herangehen an frühere Zeiten führt. Oft werde übersehen, dass die Aufklärer in ihren Schriften auf spezielle Fragen und Kontroversen des 17. und 18. Jahrhunderts antworteten. Manche Geschichtswissenschaftler missbrauchten ihre Disziplin sogar zur Identitätsbildung, meinen Pečar und Tricoire – etwa der amerikanische Ideenhistoriker Robert Darnton, bei dem die Autoren bewusste Werbung für aufklärerische Ideen und liberal-demokratische Prinzipien zu erkennen glauben.

Im 18. Jahrhundert war die heutige Welt nicht das Ziel

In Abkehr von bisheriger Geschichtsschreibung plädieren sie für eine konsequente Historisierung der Aufklärungsepoche. So müssten die Äußerungen der Aufklärer vor allem in ihrem jeweiligen zeithistorischen Kontext untersucht werden, statt zu versuchen, in ihnen die Wurzeln der Moderne zu sehen. Nur so ließen sich die Eigenlogik der Akteure, ihre Auseinandersetzungen sowohl untereinander als auch mit Aufklärungsgegnern, ihre Geltungsansprüche und Strategien verstehen. Selbst Immanuel Kants (1724-1804) berühmte Schriften "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?" (1784) sowie "Der Streit der Fakultäten" (1798) werten sie als Versuch, sich selbst und den Philosophen eine erzieherisch-beaufsichtigende Funktion etwa gegenüber anderen Universitätsfakultäten zuzuschreiben. Zudem waren Kant, wie kritische Historiker herausgearbeitet haben, rassistische Ideen nicht fremd. Und bei dem Philosophen und Schriftsteller Voltaire (1694-1778) lässt sich Antisemitismus erkennen. Man gehe jedoch fehl, wenn man ideengeschichtliche Entwicklungslinien von ihnen bis hin zum Holocaust ziehe, meinen Pečar und Tricoire.

Die Autoren stimmen damit überein, dass der Hautfarben-Rassismus vor allem im Kolonialismus wurzelt und dazu diente, die praktische Herrschaft einer weißen "Elite" über dunkelhäutige Sklaven zu rechtfertigen. Die Rassentheorien der europäischen Aufklärer galten jedoch noch einem anderen Ziel. Denn vor metaphysischem und theologischem Hintergrund wurden sie als theoretisches Mittel verstanden, die Weisheit Gottes zu belegen. Die Autoren zeigen dies am Beispiel des schottischen Aufklärungsphilosophen Henry Home Kames (1696-1782). In seinen "Sketches of the History of Man" (1774) entwickelte er die These, Gott habe die unterschiedlichen Varianten des Menschen in Anpassung an die irdischen Klimazonen geschaffen.

Sie waren Kinder ihrer Zeit

Pečar und Tricoire gehen zudem auf das Verhältnis aufklärerischer Denker zu Religion und Toleranz, zur Abschaffung der Sklaverei sowie zum Kolonialismus ein. Dabei wird klar, dass deren Ansichten genau betrachtet längst nicht so modern wirken wie oft angenommen. Beim Lesen erstaunt es, wie fremd das Denken der Aufklärungsepoche aus heutiger Sicht erscheint. Es lässt sich nur verstehen, wenn man das gesellschaftliche Umfeld der damaligen Akteure berücksichtigt und Zwischentöne wie Ironie in ihren Aussagen wahrnimmt.

Die Autoren zeigen, dass wir Abstriche von der Annahme machen müssen, die Aufklärung sei die Geburtsstunde der Moderne gewesen. Was freilich nicht in Frage stellt, dass dieses Zeitalter den Geschichtsverlauf stark geprägt hat. Beispiele hierfür sind die kantsche Philosophie und die französische Revolution. Das recht schwierige Buch bringt vermeintlich sicheres Wissen ins Wanken und ist gerade deshalb empfehlenswert. Leser sollten allerdings Vorkenntnisse zur politischen und philosophischen Geschichte des 17. und 18. Jahrhunderts mitbringen.

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