Gefiederte Freunde im Porträt
Manche Bücher sind wie ein Lieblingspullover: Man kann in jeder Lebenslage reinschlüpfen und sich wohlfühlen, auch wenn sie nicht nach irgendeiner brandaktuellen Mode gestrickt sind oder vielleicht sogar ein paar kleine Macken haben. So verhält es sich mit »Federkleid & Flügelschlag«, in dem der Journalist Thomas Griesohn-Pflieger und die Ingenieurin Iris Lichtenberg 100 Vogelarten vom Alpenschneehuhn bis zum Zilpzalp porträtieren. Dabei soll es weder ein Bestimmungsbuch noch ein Nachschlagewerk sein, wie sie schreiben, sondern ein »Verführungsbuch« – und das ist ihnen mit dem überaus charmanten Werk gelungen.
Aus der Zeit gefallene Porträts
Jedes Porträt nimmt mit Text und den begleitenden Abbildungen eine Doppelseite ein. Dabei stechen zunächst die Illustrationen heraus, weil sie an altmodisch vergilbte Schultafeln aus dem Biologieunterricht erinnern. Wie treffend diese Beobachtung ist, erfahren die Leser leider erst am Ende des Buchs, wo der Illustrator Léo-Paul Robert und sein Sohn Paul-André vorgestellt werden. Von ihnen stammen die Abbildungen in der Stiftung Sammlung Robert im Neuen Museum Biel, die teilweise vor 100 Jahren entstanden.
Leider wird nicht erklärt, wie es zu der interessanten Kooperation für das Buch kam. Ebenso fällt der biografische Hintergrund des Autors und der Autorin sehr knapp aus. Die Lektüre ist zwar auch so ein großes Vergnügen, weil die Vogelporträts aber persönlich gefärbt sind, wären zusätzliche Informationen durchaus interessant. Die Texte sind gespickt mit Anekdoten aus der Kindheit der Autoren und Erinnerungen an vergangene Exkursionen, die ohne Kontext ein wenig im luftleeren Raum hängen bleiben. Letztlich ist das aber ein kleiner Mangel: Die liebevoll und mit leichter Hand skizzierten Charakterstudien der Vögel funktionieren auch für sich allein genommen.
Die Texte folgen dabei keinem starren Aufbau. Man findet stets ein paar grundlegende Informationen zur betreffenden oder verwandten Spezies. Der Fokus kann aber mal auf dem Aussehen der Art, ihrem Gesang oder Nestbau liegen, wenn nicht eine besondere Verhaltensweise oder vielleicht die kulturelle Bedeutung des Vogels im Vordergrund steht. Ein Beispiel: Wussten Sie, dass der Eisvogel das Kinderkarussell erfunden hat? Es findet sich im Nest, das die Eltern etwa in ein Steilufer graben und wo bis zu sieben Jungtiere verborgen auf Nahrung warten. Sie rotieren dabei im Kreis, wodurch immer nur ein Junges nahe dem Eingang sitzt – und nach der Fütterung Platz für die Geschwister macht.
Der Eichelhäher wiederum legt sich mit den Jägern an, weil seine Warnrufe andere Tiere auf die Gefahr aufmerksam machen. Und zwar hochspezifisch: Ist der Feind ein anderer Vogel, baut der Eichelhäher sogar dessen Gesang in den Alarmruf ein. Den Autoren zufolge werde in Frankreich deshalb nicht »wie am Spieß« geschrien, sondern »wie ein Häher«. Ein anderes Beispiel für einen interessanten Vogel ist das winzige Wintergoldhähnchen. Dieser muss im Winter sein Gewicht in Insekten zu sich nehmen – plus eineinhalb Gramm zusätzlich. Diese Reserve brauche es, um den Vogel durch eine weitere lange Winternacht zu bringen: »Und das nicht einmal, sondern monatelang, und zwar täglich.«
Dohlen müssen hingegen keine Energie sparen und können sogar ihre Gemeinschaft über Flugspiele stärken. »Schauen Sie nach oben und sehen wild in den Himmel stürmende Dohlen, die kreisen, sich wieder fallen lassen, übereinander, untereinander, miteinander. Miteinander!« Der Enthusiasmus der Autoren steckt an und zieht sich als roter Faden durch das Buch.
Leider taucht aber auch ein anderes Motiv immer wieder auf: Die Gefährdung vieler Vogelarten durch drastische Umweltveränderungen, wenn der Klimawandel und die moderne Agrarwirtschaft essenzielle Habitate schrumpfen und Nahrung wie Insekten verschwinden lassen.
Vielleicht kann gerade dieses Buch dank seiner emotionalen Herangehensweise, bei der sich die Autoren bewusst gegen eine nüchterne Darstellung entscheiden und Vögel als Individuen in den Vordergrund stellen, den Blick für den unermesslichen Verlust schärfen. Dem Werk sind auf jeden Fall viele Leser zu wünschen – neue Lieblingsstücke kann schließlich jeder brauchen. In der nächsten Auflage sollte dann auch ein Schnitzer korrigiert werden: Hätten James Lovelock und Lynn Margulis die Gaia-Theorie vom lebenden Planeten tatsächlich im ausgehenden 19. Jahrhundert entwickelt, wäre Lovelock letztes Jahr nicht 100 Jahre alt geworden, sondern hätte seinen 200. Geburtstag gefeiert – und wäre damit wie das Buch wirklich aus der Zeit gefallen.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben