Der lange Weg zur Anwendung
Der Traum vom Gedankenlesen ist auch in der Hirnforschung weit verbreitet. Bereits Hans Berger (1873–1941), der Entdecker der Elektroenzephalografie (EEG), arbeitete vor mehr als 100 Jahren daran, die von ihm als »psychische Energie« des Gehirns bezeichneten mentalen Vorgänge zu bestimmen – zunächst mit wenig erfolgreichen Messungen der Wärmeproduktion des Gehirns und später mit der Ableitung der Hirnströme des Menschen.
Das Lesen von Gedanken
»Fenster ins Gehirn« verbindet ebenfalls Erkenntnisse über psychische Prozesse mit der begleitenden Hirnaktivität. Der ehrgeizige Titel verspricht zu erklären, »wie unsere Gedanken entstehen und wie man sie lesen kann«. Der thematische Schwerpunkt liegt allerdings auf dem Gedankenlesen, über die Entstehung von Gedanken erfährt man nicht sonderlich viel.
Der Neurophysiologe John-Dylan Haynes vom Berlin Center for Advanced Neuroimaging und der Schriftsteller Matthias Eckoldt fassen in diesem Buch den Stand der modernen Hirnforschung mit ihrem Bezug zu unserem inneren Erleben zusammen. Für den neurophysiologischen Laien stellt das eine gute Beschreibung der Grundlagen der aktuellen Forschungsansätze dar: Methoden des »Neuroimaging« wie EEG oder funktionelle Kernspintomografie (fMRT) oder auch Teile der komplexen Neuroanatomie werden verständlich erklärt.
Zu dem Thema des neurophysiologischen Gedankenlesens schildern die Autoren bildhaft zahlreiche experimentelle Untersuchungen. Dabei erfährt man viel über den Ablauf solcher Untersuchungen sowie über die komplexe Analyse der Daten. Dabei versucht man durch mathematische Algorithmen Aktivitätsmuster zu erkennen: Zunächst definiert man anhand bekannter Gedankeninhalte ein Muster der ausgelösten Hirnaktivität; beispielsweise indem einem Probanden verschiedene Bilder dargeboten werden.
Das »Lesen« des Gedachten oder Vorgestellten geschieht bei der anschließenden Darstellung derselben Bilder. Die ausgelöste Hirnaktivität wird mit den vorher gelernten Mustern verglichen. Aus der Ähnlichkeit schließt man dann, was sich der Proband vorgestellt hat. Der Erfolg der Methode liegt meist zwischen 50 und 70 Prozent. Das ist sicher ein beeindruckendes Ergebnis, doch jeder muss wohl für sich entscheiden, ob damit wirklich Gedanken gelesen werden. Illustriert das Verfahren nicht vielmehr das Wiedererkennen einer begrenzten Anzahl von Mustern der Hirnaktivität?
Die Autoren illustrieren ein weites Spektrum wissenschaftlicher Untersuchungen und Fragen: von grundlegenden Überlegungen, wie geistige Prozesse mit der Gehirnaktivität zusammenhängen, über das Erkennen von Wahrnehmungsinhalten oder Emotionen bis zu der Möglichkeit, die geschilderten Verfahren als Lügendetektor einzusetzen. Die Autoren beleuchten darüber hinaus kritisch die Anwendung solcher neurophysiologischen Techniken, beispielsweise im Bereich des »Neuromarketing«. Dabei scheine es sich meist eher »um des Kaisers neue Kleider« zu handeln als um wirklich abgesicherte wissenschaftliche Analysen. Haynes und Eckoldt betonen außerdem, dass viele Medien die Befunde der Bildgebung spektakulär, aber oft verkürzt und nicht korrekt darstellen.
Auch das Thema »freier Willen«, das in den letzten Jahrzehnten vor allem viele populärwissenschaftliche Darstellungen der modernen Hirnforschung dominiert hat, greift das Duo auf. Nicht alle Ideen hierzu erscheinen wirklich neu. Dennoch bietet das Buch vor allem Laien eine gute Übersicht über den aktuellen Stand der Forschung und jede Menge Anregungen, sich mit den genannten Themen weiter auseinanderzusetzen.
Als Resümee lässt sich festhalten, dass es interessante Ansätze in der Grundlagenforschung gibt, die Anwendung dieser Methoden im Alltag jedoch noch weit entfernt ist. Die statistischen Unsicherheiten, mit denen die Ergebnisse verbunden sind, schließen eine praktische Umsetzung vermutlich noch lange aus. Auch die künstlichen und oft sehr unangenehmen Bedingungen in einem MRT-Scanner sind praxisfern und für den alltäglichen Einsatz untauglich. Das Lesen von Gedanken im eigentlichen Wortsinn wird wohl noch lange ein Traum bleiben.
Das Buch ist verständlich und gut lesbar geschrieben, allerdings sind zwei Punkte etwas irritierend: Obwohl es von zwei Autoren stammt, sind weite Teile in der ersten Person Singular geschrieben, und statt wissenschaftlicher Abbildungen tauchen eher wenig anschauliche cartoonartige Zeichnungen auf. Insgesamt kann man diesen Titel aber allen empfehlen, die an den Fortschritten der Hirnforschung des Menschen interessiert sind.
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