»Flaschenpost«: Zustellung ungewiss!
Als Postboten sind Glasflaschen auf dem Meer bestenfalls bedingt geeignet. Übergibt man der See Botschaften verpackt in Glasbehältern, wird die Zustellung zum reinen Glückspiel. Das Meer erlaubt dem Absender nicht einmal, den Empfänger zu bestimmen. Und dennoch hat die Flaschenpost ihren Reiz. Die Reise ins Ungewisse fasziniert. In Form der Flaschenpost findet sie im Kleinen statt und ist, zumindest für den Absender, ungefährlich. Dringende Fragen begleiten das Versenden: Wo landet meine Nachricht, die ich gerade mitten im weiten Ozean über Bord geworfen habe? Wer wird meine Botschaft finden? Vielleicht trifft meine Post ja auf jemanden, der sie auf einem verlässlicheren Weg wieder zurückschickt. Welche Nachricht bekomme ich dann hoffentlich zusätzlich vom Finder?
Mehr als 600 Briefe per Flaschenpost
Ähnlich hat wohl Georg Balthasar Neumayer (1826–1909) gedacht, als er sich der Flaschenpost bediente, um die Strömungen der Weltmeere besser zu verstehen. In der damaligen Deutschen Seewarte wertete er mehr als 600 standardisierte Botschaften aus. Ausgesetzt wurden sie als Flaschenpost von Passagieren, Offizieren und Kapitänen auf hoher See. Irgendwo auf der Welt, viele Monate, meist sogar Jahre später, beendeten sie ihre Reise an irgendeiner Küste und wurden von Spaziergängern, Strandgutsammlern oder Fischern gefunden. Wenn es besonders gut lief, fand der Inhalt der Flaschen seinen Weg zurück zur Hamburger Seewarte. Darauf vermerkt: der Fundort der Flaschenpost. Heute werden die Fundstücke in vier Alben in der Bibliothek des Bundesamts für Schifffahrt und Hydrographie aufbewahrt.
Wolfgang Struck hat sich tief in diese Archive gewühlt. In seinem Buch erzählt der Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Erfurt die Geschichten, die sich hinter den nüchternen Zahlen aus Koordinaten des Absende- und Fundorts verstecken. Struck schlägt damit geschickt einen Bogen von den Ursprüngen der Ozeanografie zu den Anekdoten, die sich in Zusammenhang mit den Botschaften auf den Weltmeeren zugetragen haben.
So setzte Kapitän Gustav Tooren gleich zehn Nachrichten per Flaschenpost in der Mitte des Atlantischen Ozeans im Februar 1893 aus, ein wenig nördlich des Äquators. Zwei von ihnen wurden mehrere hundert Tage später gefunden, aber erstaunlicherweise weit voneinander entfernt. Die eine landete an der Küste Afrikas, die andere in Nicaragua. War es nun der Wind oder der Strom, der die Flaschen antrieb? Was sich für die Rekonstruktion der Meeresströmungen als rätselhafte Anomalie darstellte, repräsentiert auf geradezu unheimliche Weise ganz andere Strömungen, schreibt Struck. Fügt man nämlich beide Kurse zusammen, ergibt das genau die berüchtigte »middle passage«, auf der jahrhundertelang Männer, Frauen und Kinder in die Neue Welt verschleppt worden sind.
Wolfgang Struck lässt die Leserinnen und Leser in den Kosmos der unkonventionellen maritimen Postzustellung eintauchen. Dazu zeigt er eine kleine Bildauswahl jener Nachrichten aus den Alben der Deutschen Seewarte. Zur Rekonstruktion der Historie hinter den Datenblättern gesellen sich Essays, welche Rolle etwa die Flaschenpost bei Schriftstellern über die Jahrhunderte oder bei der Übermittlung letzter Botschaften vor dem Untergang eines Schiffs eingenommen hat. So vermittelt der Autor ein Gefühl dafür, welche kleine, aber feine Rolle die Flaschenpost für die Anfänge der Ozeanografie bedeutet hat, die sich zugleich zu einer Art internationalem Kulturgut der Menschheit entwickelte.
Im Zeitalter der mit Lichtgeschwindigkeiten übermittelten Botschaften hat die Flaschenpost ihren Charme keineswegs eingebüßt, da kann sie noch so unzuverlässig sein. Ihre Faszination liegt im Erratischen, obwohl die Meeresströmungen heute vergleichsweise gut erforscht sind. Es bleibt immer spannend, wo eine irgendwo in den Weiten des Meeres ausgesetzte Botschaft das Ende ihrer Reise findet.
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