Panta rhei in Mitteleuropa
Flüsse sind ein zeitloses Thema und doch brandaktuell, wie Josef Reichholf bereits im Vorwort des Buchs »Flussnatur« deutlich macht: Im Sommer 2021 haben schwere Hochwässer weite Teile Deutschlands, der Niederlande und Belgiens heimgesucht; über 220 Menschen kamen ums Leben, unzählige verloren ihre Existenzgrundlage. An der Katastrophe ist der Mensch nicht unschuldig. Reichholf, der unter anderem Gewässerökologie an der TU München gelehrt und selbst an Flüssen im bayerisch-österreichischen Grenzgebiet geforscht hat, zeigt die komplexen Zusammenhänge zwischen unseren Eingriffen in die »Flussnatur« und ihre offensichtlichen und weniger offensichtlichen Folgen anschaulich auf. Als bekennender Naturschützer plädiert er dafür, Flüssen durch Renaturierung wieder mehr Raum zu geben. Denn nur so könnten sie auch wieder vor Hochwässern schützen.
Begnadeter Erzähler
»Flussnatur« lässt sich jedoch bei Weitem nicht auf diesen Naturschutzgedanken reduzieren. Der Autor zeichnet auf rund 300 eng bedruckten Seiten ein genaues Bild des Lebensraums Fluss mit all seinen Aspekten. Bereits im einführenden Kapitel »Spaziergänge an Flüssen« zeigt sich eine Stärke Reichholfs: Er ist ein begnadeter Erzähler mit einer schlichten wie poetischen Sprache, die einen bewegt.
Seine lebendigen und atmosphärischen Schilderungen eines Sommerabends an der Isar, von Vogelbeobachtungen am Unteren Inn oder einem Elbe-Besuch zu Zeiten der DDR sind ein Lesegenuss. Auch in den folgenden, faktenreicheren Kapiteln gelingt es dem Autor, diesen Schreibstil aufrechtzuerhalten. Teil I und II des Buchs verfolgen einen typischen mitteleuropäischen Fluss von der Quelle bis zur Mündung und erläutern die Funktionen und Aufgaben, die er wahrnimmt. Dazu gehört auch eine Betrachtung der vielfältigen Lebewesen, die dort leben, auf den Fluss angewiesen sind und gleichzeitig ihren Teil zum Funktionieren des Ökosystems beitragen. Teil III entführt in die exotisch anmutende Welt der Auwälder und des Altwassers mit Lagunen, Silberweiden und Flusskrebsen. In Teil IV stehen die Eingriffe des Menschen in die Ökosysteme im Vordergrund.
Angenehm fällt auf, dass Reichholf – auch wenn er klar für den Schutz der Gewässer Position bezieht – nie einseitig argumentiert. Wie nur wenigen Akteuren gelingt es ihm, das große Ganze im Blick zu behalten. So macht er deutlich, dass die Bewertung von Maßnahmen immer vom eigenen Standpunkt abhängt und manch gut gemeinter Versuch das Gegenteil bewirkt. Andererseits könnten Eingriffe nötig sein, um bestimmte Arten oder Ökosysteme zu erhalten.
Zum Abschluss kehrt Reichholf noch einmal an die Isar zurück. Sie ist ein Musterbeispiel für eine gelungene Renaturierung bis hinein in die Innenstadt Münchens, wo an den Ufern ein wertvolles Naherholungsgebiet entstanden ist. Die intensive Nutzung der Isarufer durch die Münchner stellt aber inzwischen eine neue Bedrohung für Tiere und Pflanzen dar. Dem Fluss sei es egal, wie und wohin er fließe, macht der Autor deutlich. Es seien unsere Ansprüche, die definieren, wie ein Fließgewässer zu sein hat. Daraus leitet er eine Verantwortung ab: »Die Ansprüche aus allen Teilen der Gesellschaft anzuerkennen und fair zu gewichten, ist die Zukunftsaufgabe für unseren Umgang mit dem Wasser. Es gehört allen und niemandem allein.«
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