Essen als Ersatzreligion
Vielleicht stand am Anfang von Kathrin Burgers Buch eine verpatzte Dinnerparty. Jedenfalls beschreibt die Ökotrophologin und Journalistin im Vorwort, wie schwer es heute geworden ist, Freunde beim Essen zusammenzubringen. Einer hat gerade den Veganismus für sich entdeckt (keine tierischen Produkte); ein anderer die Paläodiät (viel Fleisch); eine Dritte schwört auf Low Carb (keine Kartoffeln, keine Nudeln, kein Reis); die Vierte hat lange in ihren Körper hineingehorcht und vernommen, dass sie ab sofort kein Gluten mehr verträgt. Und dann sind da noch die Clean Eater, Intervallfaster, Zuckermeider und Laktoseintoleranten. Für ein gemeinsames Essen kämen somit höchstens ein paar Gemüsestreifen, Salatblätter und Beeren in Frage.
Burger stört sich an dieser neuen Unmöglichkeit geselligen Beisammenseins. Hauptgrund dafür ist – so die These der Autorin –, dass immer mehr Menschen den Ernährungstrends mit beinahe religiösem Eifer folgen. Und das, obwohl sich all die Heilsversprechen von ewiger Jugend, Schönheit und Gesundheit wissenschaftlich nicht halten lassen. Burger ist Ernährungswissenschaftlerin. Entsprechend kritisch und akribisch nimmt sie deshalb im ersten Teil ihres Werks die verschiedenen Ernährungstrends auseinander.
Verheerende Ökobilanz
So genannte Superfoods wie Quinoa, Chiasamen oder Gojibeeren haben demnach wohl wirklich gesundheitlich günstige Wirkungen, allerdings trifft das auch auf Dinkel, Leinsamen und Johannisbeeren zu – Letztere haben aber als heimische Lebensmittel eine längst nicht so verheerende Ökobilanz wie die Ersteren. Steinzeitkost? Ist überhaupt nicht umweltschonend und wegen der hohen Eiweißzufuhr langfristig eher nicht zu empfehlen. Anthroposophische Ernährungsweisen wiederum haben sich als durchaus gesund erwiesen, gründen aber auf esoterischem Schmu.
Für jeden Trend findet Burger Beispiele, die das Ideologische und Religiöse belegen: Bei den Veganern und Low-Carb-Anhängern etwa wimmelt es von Bekehrungsgeschichten à la »vom Saulus zum Paulus«. Die Autorin entlarvt, wie Clean Eating und andere Trends ihren Anhängerinnen und Anhängern sowohl Gesundheit als auch »Wellbeing«, Sinnhaftigkeit und seelisches Gleichgewicht versprechen. Das alles ist interessant, und doch wirkt die Beweisführung mitunter etwas bemüht. Nur weil sich stets religiös erleuchtete Eiferer und indoktrinierende Influencern und Influencerinnen finden lassen, heißt das nicht, dass die große Mehrheit der Fans ähnlich tickt. Wer einem Ernährungstrend folgt, obwohl es keine wissenschaftlichen Belege für dessen Wirksamkeit gibt, muss nicht gleich ideologisch verblendet sein. Vielleicht ist er oder sie einfach nur ein bisschen naiv.
Im zweiten Teil des Buchs postuliert die Autorin, vermutlich durchaus zutreffend, eine allgemeine Sehnsucht der Gesellschaft nach identitätsstiftenden Regeln. In den westlichen Industrienationen, in denen die Ernährungstrends besonders viele Anhängerinnen und Anhänger haben, gibt es demnach immer weniger allgemein gültige Werte und Traditionen. In der Individualgesellschaft kann und muss jede und jeder für sich selbst entscheiden – auch darüber, was auf den Teller kommt. Die divergierenden Trends, Gegnerschaften, Ausgrenzungen und Blasenbildungen, die sich auf dem Feld der Ernährung zeigen, könnten demzufolge der Ausdruck und das Spiegelbild einer verunsicherten Gesellschaft sein.
Nach einem etwas stark zugespitzten Zwischensprint – der »Ernährungswahn« könne nicht nur zu mangelnder Geselligkeit, sondern auch zu Diskriminierung, Klassen- und Geschlechterkämpfen führen – hält das Werk am Ende noch einen optimistischen Schlussappell bereit. Im Grunde, schreibt Burger, sei es ja positiv, wenn sich immer mehr Menschen bewusst mit ihrer Ernährung auseinandersetzen. Wenn nun noch alle ein klein wenig über den eigenen Tellerrand hinausgucken würden, könne es vielleicht doch noch etwas werden mit dem gemeinsamen Essen unter Freunden.
Schreiben Sie uns!
1 Beitrag anzeigen