Im Schatten von Corona und Krisen
Im Schatten von Corona und angesichts politischer Verwerfungen durch sich autokratisch gebärdende »Demokraten« wie Donald Trump, Jair Bolsonaro, Viktor Orbán oder Jarosław Kaczyński diskutiert der Sozialwissenschaftler Jan-Werner Müller in »Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit« die Grundlagen von Demokratie – und wie man sie stärkt. Er fokussiert dabei weniger auf die mögliche Zukunft der Herrschaftsform, vielmehr eröffnet er eine dringend notwendige Diskussion angesichts des Rechtsrucks und der antidemokratischen Bewegungen in vielen Ländern.
Grundprinzipien der Demokratie
Müller, der Politikwissenschaften an der Princeton University lehrt, benennt bereits im Titel die wichtigsten Kriterien für eine Demokratie. In seinem Buch versucht er herauszufinden, woher diese Grundprinzipien kommen und wie der Weg zur Demokratie bisher beschaffen war. Zudem fragt er sich, »ob wir von unserem Weg abgekommen sind (was allerdings nicht heißt, dass es nur einen einzigen politisch seligmachenden Weg gäbe)«.
Seit seinem viel beachteten Essay »Was ist Populismus?« (2016) weiß Müller, dass es für eine Demokratie nicht ausreicht, bloß Regeln oder Prozesse zu befolgen, die autokratische Führer leicht blockieren oder in ihrem Sinne nutzen können. Demokratie lässt sich durch »die Berufung auf die Prinzipien Freiheit und Gleichheit rechtfertigen«. Bürger müssen in einer Demokratie die »Erfahrung von politischer Gleichheit machen«, gleiche Rechte und »Gleichheit im Zusammenleben« erhalten. Freiheit wiederum beinhaltet sowohl die Möglichkeit, sich politisch zu engagieren, als auch, sich nicht einzubringen. Ein ebenso wichtiger Aspekt ist die Ungewissheit: Wer in freien und geheimen Wahlen gewinnen oder verlieren wird, bleibt offen.
Nachdem Müller diese Prinzipien erläutert hat, diskutiert er in den folgenden Kapiteln die Rolle von Parteien und Medien sowie »Demokratisches Handeln«, darunter Aspekte der Vermittlung, des Ausschlusses und des kontrollierten Rechtsbruchs für die Erhaltung der Herrschaftsform.
Müller verweilt dabei nicht in theoretischen Überlegungen, sondern hält den Blick offen für konkrete Entwicklungen in den USA, Brasilien, Ungarn, Italien, Spanien, Polen und anderen Ländern. Das Buch ist mit vielen historischen Beispielen gespickt, die von der antiken griechischen Demokratie über die Aufklärung und Romantik bis in die Gegenwart reichen.
Der Autor verweist auf die positive Funktion solcher Bewegungen wie »Podemos« in Spanien oder die »Fünf-Sterne-Partei« in Italien: »Wie jede gute Satire bringen vermeintliche ›Spaßparteien‹ Menschen zum Nachdenken. (…) Spaßparteien müssen kein Witz sein. Die Sorge, die Menschen könnten deren Charakter vollkommen missverstehen, unterschätzt, gelinde gesagt, das Urteilsvermögen der Bürgerinnen und Bürger.«
Die Transparenz von Institutionen spielt für Müller eine wesentliche Rolle in der Demokratie. Sowohl Parteien wie Medien müssen durchschaubar, ihre inneren Abläufe für die Bürger erkennbar bleiben, ebenso wie die Funktionsweise, wie Entscheidungen zu Stande kommen. Zudem müssten neue Gruppierungen leicht entstehen können. Wichtig ist dabei auch, dass sie die Möglichkeit erhalten, selbst eigene Parteien oder Medien zu gründen, um ihre Vorstellungen zu artikulieren und zu verwirklichen.
Müller zeigt sich als Kritiker der so genannten »wehrhaften Demokratie«, die zu ihrem Selbsterhalt politische Grundwerte beschneidet. »Ja, sogar das Bemühen, die Demokratie zu schützen, füge ihr Schaden zu – man denke nur an die vielen Skandale um den deutschen Verfassungsschutz.« Anstatt eine Demokratie so zu beschneiden, plädiert der Autor für einen »kontrollierten Rechtsbruch«, angelehnt an John Rawls' Definition des »zivilen Ungehorsams«, der sich bewusst gewaltlos dafür stark macht, Gesetze zu ändern, wenn diese eine Verletzung von Grundrechten darstellen.
Das Schlusskapitel enthält zwar »Fünf Gründe für Hoffnung (nicht Optimismus)« – sie bieten aber eher eine Zusammenfassung der vorherigen Diskussion als einen Ausblick darauf, wie Demokratien künftig beschaffen sein müssen. Bei Müller erkennt man dabei eine starke Ausrichtung auf US-amerikanische »Checks and Balances«, insofern die Bürger selbst die letzte Instanz für Freiheit und Offenheit einer Demokratie sind. Das Buch enthält keine eigenen Reformvorschläge. Den interessierten Leserinnen und Lesern bietet es, mit umfangreicher Geschichtskenntnis ausgestattet, eine gut geschriebene, spannende Lektüre sowie einen Beitrag für eine notwendige Diskussion der Prinzipien, um die Demokratie zu unterstützen, zu reformieren und zu stärken.
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