Physikalisches Potpourri
»Ich habe im Folgenden versucht, die zentralen Botschaften der modernen Physik so einfach wie möglich darzustellen (…)« – so beginnt das neue Buch des Physik-Nobelpreisträgers Frank Wilczek, das sich explizit an Laien richtet. Dafür erläutert er in einem ersten Teil, was es im Universum alles gibt, und schildert anschließend, wie es zu diesen Dingen kam. Damit weicht er vom klassischen Aufbau vieler populärwissenschaftlicher Physikbücher ab, die sich der Thematik meist historisch nähern: Sie beginnen mit einem groben Bild der Natur und gehen dann immer tiefer ins Detail, bis sie bei den fundamentalen Gesetzmäßigkeiten landen. Durch seinen Ansatz hebt sich Wilczeks Werk deutlich ab. Doch leider ist es an vielen Stellen schwer, den Gedanken des genialen Forschers zu folgen – umso mehr, wenn Grundlagenwissen fehlt.
Viele offene Fragen
Im ersten Teil des Buchs werden fünf Fakten über unsere Welt in fünf Kapiteln präsentiert: Es gibt viel Raum, viel Zeit, viel Energie und Materie – hingegen wenige Bausteine, aus denen sich diese zusammensetzt, sowie wenige Gesetze, denen sie folgt. Die ersten beiden Kapitel handeln von der Messung von Distanzen und Zeiträumen, vom ganz Großen (Entfernungen von Galaxien, das Alter des Universums) und ganz Kleinen (die Ausmaße eines Protons, die Schwingungsdauer eines Atoms). Dabei geht Wilczek auf die Funktionsweise von GPS und der Rotverschiebung ein, spricht über die C14-Analyse sowie über die Nervenleitgeschwindigkeit unseres Körpers. Den jeweiligen Themen widmet er leider nur wenige Seiten, so dass viele Fragen offenbleiben. Zudem springt er von einer Erklärung, etwa der C14-Methode, ohne Übergang zur Geschwindigkeit des menschlichen Denkens. Dadurch fällt es bei der Lektüre oftmals schwer, zu erkennen, worauf der Autor hinauswill.
Die darauf folgenden drei Kapitel ähneln in ihrer Struktur den klassischen Sachbüchern. Dort wird erläutert, aus welchen Elementarteilchen sich gewöhnliche Materie zusammensetzt und wie sie untereinander wechselwirken. Dabei erwähnt der Physiker jedoch viele Konzepte, die er erst in den kommenden Kapiteln erklärt, etwa die Unschärferelation oder Quantenfelder. Andere Phänomene tauchen an manchen Stellen sogar auf, ohne überhaupt wieder aufgegriffen zu werden, zum Beispiel die Symmetrie des Drehimpulses oder so genannte Zeitkristalle.
Leider bringt auch der zweite Abschnitt des Buchs nicht viel mehr Licht ins Dunkel. Wilczek verspricht, darin einige der bedeutendsten Konzepte der Physik zu erklären. Doch auch hier bleiben die Erläuterungen oft dürftig. Unter anderem bespricht er die Urknalltheorie und das kosmologische Standardmodell (samt Dunkler Energie und Dunkler Materie), die Komplexität des Universums und Gravitationswellen. Wie zuvor springt er in diesen Kapiteln ebenfalls häufig zwischen verschiedenen Themen hin und her. Ein Abschnitt beginnt beispielsweise mit dem Rätsel, warum manche subatomaren Prozesse vorwärts und rückwärts gleich ablaufen, wenige andere hingegen nicht. Von dort aus geht er zur Bewegung von Sternen und Galaxien über, dann zur Ausdehnung des Kosmos, zur Dunklen Materie, anschließend zur Dunklen Energie – um schließlich wieder bei der Zeitumkehr zu landen. Für Leserinnen und Leser, die vorher noch nicht mit den angesprochenen Konzepten vertraut waren, lassen sich die verschiedenen Schlussfolgerungen und Implikationen kaum nachvollziehen.
Wie Wilczek am Anfang des Buchs betont, handelt es sich bei den gewählten Themen um eine subjektive Auswahl. Auffällig ist allerdings, dass er sich teilweise ungewöhnlichen Aspekten der Physik widmet, wie Quasiteilchen oder der bereits angesprochenen Zeitumkehr. Dass diese Phänomene nur selten in populärwissenschaftlichen Büchern auftauchen, hat einen Grund: Man muss einerseits recht lange ausholen, um sie zu erläutern, außerdem braucht man sie nicht zwingend, um die wichtigsten Eigenschaften der beliebten Physikthemen (Urknall, Schwarze Löcher, Quantenphysik) verständlich darzustellen. Da auch Wilczek den Phänomenen nur wenig Platz einräumt, bleibt das Verständnis an diesen Stellen auf der Strecke. Durch die Einführung von Quasiteilchen und Zeitumkehr kann er jedoch auf zwei von ihm entwickelte Teilchen eingehen: die Anyonen, inzwischen nachgewiesene Quasiteilchen, sowie Axionen (hypothetische Partikel und Kandidaten für Dunkle Materie). Zwar betont Wilczek, dass Letztere bisher nicht gefunden wurden, doch er erwähnt nicht die anderen viel versprechenden Kandidaten für Dunkle Materie.
Neben der Physik enthält das Buch viel Historisches und Philosophisches. Wilczek erzählt ausgewählte Geschichten von wissenschaftlichen Entdeckungen und ordnet einige Sachverhalte auch wertend ein. So kommt er etwa auf den Klimawandel, künstliche Intelligenz und den freien Willen zu sprechen. Zudem finden sich zahlreiche Zitate von Forscherinnen und Forschern, Philosophen, Richtern und sogar aus der Bibel. Auch hier wirkt die Mischung an vielen Stellen etwas wahllos.
Insgesamt scheint das Werk chaotisch: Es fehlt der rote Faden, der Autor schweift häufig ab, die Passagen passen nicht zusammen. Und auch die Übersetzung lässt zu wünschen übrig: Neben ungeläufigen Abkürzungen wie KHS (für kosmische Hintergrundstrahlung, statt dem geläufigen CMB aus dem Englischen) oder GHS (großer Hadronenspeicherring, statt LHC) taucht ständig das Wort »Interaktion« auf, wobei der Begriff »Wechselwirkung« in diesem Zusammenhang wesentlich gängiger ist. Für Laien bleibt im Buch zu vieles unerklärt, während für Leserinnen und Leser mit Fachwissen das Buch nichts wirklich Neues liefert – schade!
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